Martin Luther 2017

Martin Luther #3 Als Martin Luther wurde

19. Januar 2017

Es scheint einen Punkt zu geben, an dem bestimmte Menschen zu etwas werden, das größer ist, als sie selbst. So viele weltbewegende Entwicklungen werden mit genau einer Person verbunden. Oder vielmehr dem, was diese Person für die Entwicklung bedeutet.

Ich frage mich immer, wo und zu welchem Zeitpunkt diese Transformation stattgefunden hat.
Gab es ein Ereignis, dass jemanden inspiriert hat, anders zu handeln, als er oder sie es vorausgesehen haben? Gab es einen Gedanken, der alle anderen zuvor gedachten Gedanken in den Schatten stellt? Fand ein Austausch statt, der zwei Dinge miteinander verknüpft hat, die vorher lose waren?

In Luthers Fall, war es der Blitzschlag, die Thesen, das Tribunal? Mit Sicherheit würde jeder auf diese Frage anders antworten. Und genau das finde ich so spannend daran.

Als Martin Luther wurde

Es gibt einen Film über Martin Luther, mit Joseph Fiennes in der Hauptrolle, der mir den Zeitpunkt gezeigt hat, den ich im Leben Luthers am interessantesten finde. 

Die Szene spielt in Luthers Kammer, einem zellenartigen, kahlen Raum. Wir hören vor der Tür, was sich drinnen abspielt. Reges Geflüster, schnelle Schritte auf dem nackten Steinfussboden. Durch ein kleines Fenster in der groben Holztür sehen wir ins Innere des Raumes und ins Innere Luthers. Er durchquert den Raum von einem Ende zum anderen, hält sich den Kopf, als könnte der Schädel die Gedanken nicht fassen. Läuft in Kreisen, eindringlich flüsternd. Bedeckt die Augen mit den Händen, rauft und knetet die Finger, das Gesicht, die Tonsur.

MARTIN
Shut up: Shut up: Leave me alone: Satan, stifle your lying tongue:
I never claimed to be good: Never: They know my faults here … my pride, my cursed lust:
I confess them all: I confess them all: Just leave me:
Just leave me: Just leave me: Please leave me:

Was mir wirklich gefällt, ist, wie Luthers weltliches Leben mit seinem spirituellen Leben verzahnt wird. Das eine kann sich ohne das andere nicht entwickeln.

Bemerkenswert an der Szene ist, dass sie wahrscheinlich viele Ereignisse und Überlegungen zu einem Bild zusammenfasst, dass Luthers Auseinandersetzung widerspiegelt. Sie ist ein schöner Auftakt für den Film, der sich im Sinne einer Biografie immer um den Menschen dreht, der im Mittelpunkt des Symbols steht. In gewisser Hinsicht, finde ich, ist die Szene eine Ouvertüre, die bereits alle Elemente der weiteren Entwicklung Luthers in sich birgt. Die Verwandlung, die hier stattfindet, ist der erste Schritt zu dem, was Martin zu Luther machte.

Die Verwandlung beginnt

Der Film beginnt mit Martin, im Gewitter. Der Blitzschlag der Luther ins Kloster führt. Und schneidet schnell in den nächsten Sturm; Martins Vater besucht die erste Messe seines Sohnes und zeigt sich enttäuscht und wütend über Martins Entscheidung, das Jurastudium für das Mönchsdasein aufzugeben. Martin bittet ihn, zu bleiben und mit ihm zu reden. Doch sein Vater reitet ab und lässt seinen Sohn ohne Einverständnis stehen. 

Wir erreichen die Zelle zusammen mit Johann, Martins Mentor. Der Ältere blickt durch das vergitterte Fenster in Martins Raum. Martin und sein Schatten. Eingegittert ins fahle Licht, das durch die bleiverglasten Fenster fällt. Der junge Mönch sitzt zusammengekauert, in einer Ecke des kargen Raumes, flüsternd, flehend. 

Das ist ein Sohn, den sein Vater verlassen hat. Zweifelnd. Sicher, die Schuld in sich selbst zu finden. Warum? Ist nicht nur eine Frage, die sein Vater ihm stellt. Warum ist die Frage, die Martins ganzes Leben bestimmt. Warum kann es keinen Mittelweg geben, zwischen Gut und Böse? Warum ist es nicht möglich, einen Kompromiss zu finden zwischen Martins eindringlichen Wünschen und den Erwartungen seines Vaters? Kann er Gott nur enttäuschen, und den Teufel nie ganz loswerden?

I never claimed to be good.

Martins Schattenseite. Warum muss er immer alles besser wissen? Warum kann er nicht sein, wie es sein Vater sich wünscht. Sich in die Hände des Klosters zu begeben, macht ihn das zu einem besseren Menschen? Besser als der Jurist, der er sein könnte? Besser als sein Vater? Sein Leben Gott zu widmen, muss das exklusiv sein? Schon hier wird deutlich, wie sehr ihn die Diskrepanz zwischen dem Leben und dem Streben nach Gott quält. Gibt es keinen anderen Weg zu glauben?

JOHANN
You’re too hard on yourself, Brother Martin.
Arguing with the devil never does any of us any good.
He has had 5000 years of practice. He knows all the weak spots.

MARTIN
I’m sorry about today.

 JOHANN
I’m not here to scold you, Martin.

MARTIN
I’m too full of sin to be a priest.

Johann betritt die Zelle. Ruhig.

Schön wird hier erzählt – Johann ist nachsichtig, er ist warm und wissend. Doch Martin kann seine Wärme nicht fühlen und seine unterstützenden Worte nicht hören. Er ist auf seine Sünden konzentriert. Er will sich geliebt fühlen, kann sich selbst nicht lieben.

Es ist zuviel Mensch an mir, um jemals ein Diener Gottes zu sein.

Als Martin Luther wurde

Es entsteht eine sehr interessante Dynamik zwischen dem Älteren, Johann und dem Jungen, Martin. Johann repräsentiert eine Art Vaterfigur, er kennt das Leben besser als Martin es kennt. Und trotzdem wird deutlich, dass hinter Martins Dramatik eine Energie steckt, die er nicht mehr hat, ja vielleicht nie hatte. Der junge Mann in der Ecke der Zelle ist in den Kampf mit sich selbst verstrickt. Hinter den bitterernsten Vorwürfen schlummert ein Potential, das geweckt werden will. Die Möglichkeit, zu einer tieferen Einsicht zu gelangen.

JOHANN
You know, in two years I’ve never heard you confess anything remotely interesting.

MARTIN
I live in terror of judgment.

Johanns sanftem Humor lehnt Martin als Linderung ab. Auch er testet seinen Mentor, setzt seine Geduld und Menschenkenntnis auf die Probe.

JOHANN
And you think self-hatred will save you?

MARTIN
Have you ever dared to think that God is not just? He has us born tainted by sin, then He’s angry with us all our lives for our faults, this righteous Judge…who damns us…threatening us with the fires of hell: I know: I know I’m evil to think it:              

Have you ever dared to think that God is not just?

Das ist Martins letzte Festung. Die Frage nach einem ungerechten Gott ist noch die Weigerung, sich selbst zu sehen. Er ist verletzt, schämt sich, will das intellektuelle Ringen gewinnen, dass ihn vor diesen Gefühlen schützt. Martin ist ein geschickter Denker und selbst in Aufruhr ein intelligenter De­bat­tie­rer.

Wenn Gott gerecht ist, warum lässt er uns scheitern und urteilt dann über uns? Die Gleichung des stummen Vorwurfs geht nicht auf. Muss immer einer leiden, wenn es um Gott und die Menschen geht? Hier kommt Johanns Stärke ins Spiel. Er ruft Martin zur Ordnung, ohne ihn zu verurteilen.

JOHANN
You’re not evil.
You’re just not honest.
God isn’t angry with you.
You are angry with God.

MARTIN
I wish there were no God.

Wenn ich es niemandem recht machen kann, dann will ich zu niemandem gehören.

Lieber allein als verlassen. Lieber lieblos als ungeliebt.

Johanns Antwort gibt Martin ein beeindruckendes Beispiel für etwas, was er noch lernen muss. Zu fragen. Und zu hören. Johann demonstriert dem Jungen, was er ihm beibringen kann. Aufzugeben. Den Widerstand loszulassen und bereit zu sein, auf sich wirken zu lassen. Johann geht es nicht darum, recht zu haben. Da ist nur ein Hauch Unmut in seiner Stimme, wenn er fragt.

 JOHANN
Martin, what is it you seek?

Und endlich gibt der Jüngere auf. Das ist der Umbruch in Martin. Er gibt die Argumente auf und stellt sich seinen Gefühlen. In Martins Leben gibt es keinen Ausweg, kein Umweg um den Wunsch herum. Keine intellektuelle Erklärung für die Sehnsucht nacht einem liebevollen Gott. Es gibt nur die Möglichkeit ehrlich zu sein, so wie Johann es ihm vorgeschlagen hat.

MARTIN
A merciful God: A God whom I can love. A God who loves me.

Johann tritt an Martin heran, reicht ihm sein Kruzifix.
Den besten Schutz, den sein Mentor ihm geben kann.

JOHANN
Then look to Christ. Bind yourself to Christ and you will know God’s love. Say to Him, „I’m yours. Save me.“ „I am yours. Save me.“

MARTIN
I am yours. Save me. I am yours. Save me.

Hier haben die Filmemacher eine interessante Entscheidung getroffen. Denn Martin greift mit der einen Hand nach dem Kruzifix, das Johann ihm anbietet. Und mit der anderen nach der Hand seines Mentors. Martin wird nie ganz auf eine Seite wechseln. Er gehört genau hierhin. Zwischen Gott und die Menschen.

Martin als Luther

Mir wird klar, es ist nicht unbedingt ein Moment in Martin Luthers Leben, der für mich bestimmt, was ich mit ihm verbinde. Vielmehr ist es ein Raum, in dem er für mich existiert. Halb Mensch und halb Symbol. Eigentlich ein Zustand, eher ein Gefühl. Die Zelle ist für mich ein schöner Ausdruck für einen Raum, den jeder von uns betreten kann.

  • Reply
    Roland
    24. Januar 2017 at 14:49

    Wow! Großes Kompliment für diesen intelligenten, sehr erhellenden Beitrag über die Person Luther. Sehr schön seine Entwicklung in Beziehung zu dem 2003 erschienenen Film mit dem wunderbaren Darsteller Joseph Fiennes auf zu zeigen. So können die Leser (ich hoffe nicht nur ich) sich mit einigen Aussagen besser auch noch in der heutigen Welt identifizieren. So zum Beispiel die Szene mit dem gütigen und humorigen Johann

    ….’Wenn Gott gerecht ist, warum lässt er uns scheitern und urteilt dann über uns? Die Gleichung des stummen Vorwurfs geht nicht auf. Muss immer einer leiden, wenn es um Gott und die Menschen geht? Hier kommt Johanns Stärke ins Spiel. Er ruft Martin zur Ordnung, ohne ihn zu verurteilen.

    JOHANN
    You’re not evil.
    You’re just not honest.
    God isn’t angry with you.
    You are angry with God.

    …..

    Das stärkt doch auch unser Selbstvertrauen, wenn wir mit den Ungerechtigkeiten der Welt konfrontiert werden. Schnell zweifeln wir, schnell fühlen wir uns ungeliebt, wo wir uns doch so nach Liebe sehnen! Das Tröstliche daran ist doch, da selbst ein Martin Luther zweifelte, dürfen wir auch zweifeln. Das bringt uns weiter: Über allem was geschieht nicht den Mut zu verlieren das Leben zu wagen, Momente zu suchen, die den Raum für unsere geistige und seelische Weiterentwicklung bieten könnte. Dazu muss man nicht berühmt werden wollen. Es genügt das Leben etwas gelassener anzunehmen und trotzdem für die Werte der Freiheit streitbar einzutreten. Dazu ist die Beschäftigung mit Martin Luther auf jeden Fall hilfreich.

    Hast du sehr gut gemacht Isabel, danke für diesen Beitrag.

    Roland

    • Reply
      Isabel
      26. Januar 2017 at 14:55

      Vielen Dank für deinen tollen Kommentar Roland! Yeah, „das Leben wagen & Momente suchen, die den Raum für unsere geistige und seelische Weiterentwicklung bieten könnte.“- da stimme ich dir absolut zu! Ich freue mich sehr über deine interessanten und anregenden Anmerkungen!
      Liebe Grüße! Isabel

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