Es ist schon seltsam. Bestimmte Sachen sind schon so oft erwähnt und erzählt worden, dass man denkt, man wüsste irgendwie darüber Bescheid – aber eigentlich hat man keine Ahnung. Mir ging das so mit Martin Luther, den 95 Thesen, dem ganzen Religionsstreit. Okay, ich war Studentin der Evangelischen Theologie, ich sollte davon Ahnung haben, oder? Aber, hey, stellt euch vor, ich musste Latein, Griechisch und Hebräisch lernen, ich war im Hauptfach Studentin der Kunstgeschichte, und ich hatte ein Leben! Und vielleicht sollte ich auch noch erwähnen: Wir hatten kein Internet in diesen finsteren Zeiten.
Prüfungen
Irgendwann war es so weit, die Zwischenprüfung in Theologie stand an. Zwei Hauptthemen aus zwei Epochen. Eines der Prüfungsthemen wurde Martin Luther. Freundlicherweise nicht das ganze Leben/Wirken, sondern die ersten Jahre. Mein Prüfer empfahl mir die dreibändige Lutherbiografie von Martin Brecht. Als Vorbereitung einigten wir uns auf den ersten Band.
Ganz unerwartet war das Buch spannend und interessant. Okay, eine Millionen Anmerkungen, es ist schon ein wissenschaftliches Buch, aber ich bekam auch einen sehr guten Eindruck von dem Menschen Luther. Besonders beeindruckt haben mich – seine Magenschmerzen. Und wenn ihr jetzt lächelt – Moment mal, das war interessant! Magenschmerzen und Ohrensausen – weil Luther nämlich gewaltigen Schiss davor hatte, diese 95 Thesen, die er zur Diskussion gestellt hatte, auf einmal überall und sogar vor einem Konzil in einer Art Gerichtssituation zu verteidigen.
Ablassbriefe
Es gab ein paar Dinge, die Luther wirklich genervt haben. Zum Beispiel, dass einige Kirchenmänner mit ein paar ziemlich unschönen Tricks eine Menge Geld verdienten. Und das Ganze dann noch unter dem Deckmantel des rechten Glaubens. Ablassbriefe zum Beispiel. Die gab es schon lange. Doch früher hieß es immer: Bete und bereue, so werden dir bestimmte Strafen (im Himmel) später nicht so heftig angerechnet.
Aber dann – auf einmal – konnte man sich ganz schnöde von Strafen freikaufen? Yep. Weil die Kirche Geld brauchte, weil die Sache einfach mal funktioniert hat und die Menschen, die auf jeden Fall kein Latein verstanden, dachten, in dieser Sache wissen andere einfach besser Bescheid.
„Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt“, war einer der überlieferten Werbesprüche von Ablasseintreiber Johann Tetzel, der das Geschäft raushatte.
Wenn man sich da erstmal eingelesen hat, kriegt man selber ganz schnell einen dicken Hals. Das war eine Riesenschweinerei. Da wurde armen Leuten Angst vor dem Fegefeuer gemacht, um ihnen damit das letzte Geld aus der Tasche zu ziehen.
95 freche Thesen
Was Luther getan hat – in und aus den eigenen Reihen heraus Kritik zu üben – war also eigentlich überfällig. Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum – Luther war Akademiker. Und seine 95 Thesen (=Aussagen, die man in akademischen Kreisen zur Diskusion stellt) waren genau in diesem Stil verfasst. Auf lateinisch. Kurze Statments, die als Diskussionsgrundlage in Fachkreisen gedacht waren. Er hat sie am 31. Oktober 1517 auch nicht etwas irgendwo öffentlich angeschlagen, sondern als Anlage einem Brief an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Albrecht von Brandenburg beigelegt. Was – zugegeben – die Sache ins Rollen brachte.
Prüfungsangst
Ich bin nicht gut in Prüfungen. Schon gar nicht in mündlichen Prüfungen. Aber meine Theologie- Zwischenprüfung war nun mal ein Gespräch mit meinem Professor über die abgesprochenen, aber doch ziemlich weitläufigen Themen.
Am Tag meiner Prüfung konnte ich auf eine Reihe von Desaster-Prüfungen zurückblicken. Angefangen von dem Aufnahmetest in der Grundschule, bei der ich auf der Bildertafel einen Hund als Wolf bezeichnete. Aber er hatte einen buschigen Schwanz! Über meine mündliche Abiturprüfung in Kunst, bei der ich einfach aufgehört hatte zu reden, obwohl meine beiden netten Prüfer (meine geliebten Kunstlehrer) wussten, dass ich alles weiß. Wenn sie das wissen, warum muss ich es dann noch sagen? Bis zu meiner Motorbootprüfung, bei der ich mich von Anfang an mit diesem machohaften Prüfer gestritten habe. Und dann dreimal falsch am Steg angelegt bin, weil mir die Art, wie er mit mir geredet hat, so auf die Nerven ging. Als wäre ich gehirnamputiert! Was ich dann offensichtlich auch bewiesen habe.
Der Tag der Prüfung
Klar, war ich nervös. Mittlerweile verband mich mit Luther, diesem Plotter- und Dickkopf eine enge Freundschaft. Ja, ich kann so gut verstehen, warum Du dich so aufgeregt hast! Und noch besser verstand ich, warum er solche Magenschmerzen hatte, als er 1518 zum „väterlichen Verhör“ durch Kardinal Cajetan anlässlich des Augustinerkonvents beim 18. Reichstag in Augsburg eingeladen wurde. Da war der Konflikt schon so hochgekocht, dass man den rebellischen Mönch in Rom sehen wollte. Moment mal, ich habe doch nur ein paar Thesen aufgestellt, oder?
Verteidigung
Ich war zu früh bei der Prüfung. Es war Februar, es lag etwas Schnee, und ich habe mich im Park in die Nähe des Theologischen Institus auf eine Bank gesetzt. Verdammt, war ich aufgeregt. Was mir in gewisserweise geholfen hat: Hey, Katrin, es geht nicht um dein Leben. Stell dir vor, Du wärst Luther!
Bei seinem ersten Gespräch mit Cajetan hatte er sich geweigert, seine Feststellungen zu widerrufen. Das nenne ich Rückgrad! Cajetan wollte ihn an Rom ausliefern lassen. Auch wenn Friedrich der Weise das verhinderte und Luther geschützt hat, ging der Konflikt weiter – und die Magenschmerzen.
1519 nimmt Luther an einem theologischen Streitgespräch mit dem katholischen Theologen Johannes Eck in Leipzig teil. Irgendwann muss er ja mal was sagen. Und da rutscht ihm dieser Satz heraus: „Auch Konzile können irren.“ Sollte heißen: Was da ein paar Kirchenoberste auf irgenwelchen Treffen diskutieren, kann doch nicht mehr Gültigkeit haben als die Bibel. Es war klar, dass dieses Gespräch die Sache nicht besser gemacht hat.
Verteidige dich
1520 erließ der Papst die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine gegen Luther. Kurz darauf war Luther als Häretiker verurteilt, mit dem Kirchenbann belegt und stand kurz davor auch noch mit der Reichsacht belegt zu werden. Das hätte ihn vogelfrei gemacht. Jetzt ging es also tatsächlich um Leben und Tod. Glücklicherweise stand ihm noch das Recht der Verteidigung vor dem König zu, das Friedrich der Weise schließlich nach zähen Verhandlungen durchsetzte.
Am 17. April 1521 durfte sich Luther im Rahmen des Reichstag zu Worms vor den Fürsten und Reichsständen verteidigen. Er wurde verhört und letztmals zum Widerruf aufgefordert, worauf er sich einen Tag Bedenkzeit (Magenschmerzen) ausbat. Es war ihm vollkommen klar: Wenn er nicht widerruft, würde das seinen Tod bedeuten (heftige Magenkrämpfe). Trotzdem hat er am nächsten Tag gesagt:
„… Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“
(Quelle: Dt. Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Bd. II, n. 80, S. 581–582)
Prüfungen und das Leben
Prüfungen sind eine seltsame Sache. Sie prüfen dich, sie prüfen den Prüfer, sie prüfen das System, sie prüfen dein Wissen, sie prüfen deinen Gehorsam und manchmal alles zusammen. Auf der Bank vor meiner Theologieprüfung, als ich hektisch mein Wissen zusammenkratzte, was gerade sehr flüchtig wurde, atmete ich ein paar Mal durch. Was wollte ich? Worum ging es heute?
Zwar stand mein Leben nicht auf dem Spiel, aber meine Einstellung zum Leben schon. Kann ich zeigen, was ich kann/weiß/gelernt habe, auch wenn ich Prüfungen nicht leiden kann und die Art, in der ich geprüft werde meist ebenso wenig? Denn was sollte das, in einem kurzen Moment zu beweisen, was man alles konnte, gelernt hatte? Eine eindeutige Meinung über irgendeine Sache zu vertreten. Ging das überhaupt? Im gleichen Augenblick wurde mir klar, über was mich mein Professor vor allem befragen würde. Die Thesen! Na, klar. Der Moment, in dem Luther etwas gesagt hat. Sein Wissen eingesetzt hat. Seine Meinung vertreten hat.
P.S. Ich habe die Prüfung mit Sehr Gut bestanden. Ich kann mich da wohl bei Luther bedanken, der verstanden hat, dass eine Prüfung vor allem mit einem selbst, dem eigenen Gewissen, dem eigenen Leben zu tun hat. Steh dazu. Mit und ohne Magenschmerzen.
4 Comments
Roland
3. Februar 2017 at 00:20Hi Katrin,
da hast du wieder sehr gekonnt den Bogen von Luther’s Magenschmerzen zu den Prüfungsängsten heutzutage geschlagen! Solche Schulbücher wünscht man sich doch – vielleicht wird ja noch was daraus! Jeder hat andere Ängste vor Herausforderungen, vor dem, nun zu zeigen was man nicht nur gelernt hat, sondern auch ‚kann‘ – sprich verstanden hat.
Komischerweise war es bei mir anders herum. Vor Schul-, Aufnahme- oder Studien- Abschlußprüfungen hatte ich nie Angst, Magenschmerzen oder Nervösität waren mir unbekannt. Denn ich lernte immer leicht, einfach vor den Prüfungsterminen ordentlich und ernsthaft, das genügte dann meist, verbunden mit meinem Redetalent, mit dem ich mich in kniffligen Situationen (bei mündlichen Prüfungen) aus der ‚Affäre‘ ziehen konnte. So dachte ich in jungen Jahren, dass ich wohl mich ‚ durchs Leben schlagen‘ würde können.
Weit gefehlt. Dann kamen die wirklichen Prüfungen. Die des Lebens, die dich plötzlich vor ganz neue Herausforderungen stellen. So durfte ich, kaum stolzer Inhaber des Steuermannspatentes auf großer Fahrt (Vorstufe zum Kapitänspatent) mein Patent wieder abgeben, da sich meine gesundheitlichen Voraussetzungen zur Eignung als verantwortlicher Schiffsführer verschlechtert hatten, ich war durch das viele Lernen kurzsichtig geworden!
Das war ein gewaltiger Schock, denn das war mein Wunschberuf von Kindheit an gewesen! So stand ich da und musste nun mein Leben neu gestalten! Wieder von Null anfangen. Da ich reiselustig war, kam nach der Seefahrt nur die Luftfahrt in Frage, was mir, wiederum nach vielen Prüfungen und psychologischen Tests gelang – wenn auch nicht zum fliegenden Personal, sondern in ‚Operations-Control‘ .
Ich bewundere immer Leute, deren Lebensweg gradlinig und zielstrebig von Berufserfolg zu Berufserfolg führt. Mir beschied das Schicksal es leider nicht. So gab ich auch diesen Beruf wieder auf – wegen der Liebe ! – die Prüfungsfrage hieß: Ist dir deine Frau wichtiger als dein Beruf?! Und da ich meine Frau sehr liebte, war die Antwort klar.
Insgesamt erlernte ich in meinem Leben vier Berufe. Was noch viel wichtiger dabei war: Ich lernte nicht nur die Lebenskunst, sondern auch Gelassenheit und (etwas) Weisheit. Lebte in fremden Kulturen, mitten unter den dortigen Verhältnissen, unter den Armen und Beladenen, unter Verirrten, Verwirrten, Überspannten, unter Armen wie Reichen. Das ganze Kaleidoskop des Menschlichen – sei es nun gut oder schlecht, das ist immer Ansichtssache.
Das ist es, was die Beschäftigung mit Luther bringen kann, besonders wie Du , Uwe und Isabel es uns hier so trefflich darstellen. Wie Luther einer wirklichen Prüfung des Lebens ausgesetzt zu sein und trotz widrigster und sogar lebensgefährlicher Umstände zu überstehen, mehr noch, sich vom guten Weg nicht abbringen zu lassen. Nicht die schulischen und Hochschulprüfungen sind eine wirkliche Herausforderung, sondern die Prüfungen im Leben, seien sie schicksalhaft oder durch persönliches Verhalten dann notwendig geworden.
Danke für diesen wiederum sehr interessanten Beitrag!
Liebe Grüße
Roland
Katrin
3. Februar 2017 at 11:34Hi Roland,
tja, mein Lieber, jetzt ist es schon so, dass wir uns auf deine Kommentare genauso gespannt freuen, wie auf das Schreiben der Blogbeiträge. Tolles Leben. So soll es sein. Ich denke, dass Prüfungen einem – egal ob gesundheitlich, in einer Beziehung oder beruflich – zeigen, wo es lang geht. Egal, ob man durchfällt oder besteht, man lernt etwas über sich selbst, die Welt und – wie man zum Leben steht.
Und Luther, wow, da kann ich mich nur ehrfürchtig verbeugen.
Roland
3. Februar 2017 at 14:40tja, ihr Lieben, eine bessere Freude hättet ihr mir nicht machen können! Eine win-win situation! Schade nur, dass sich nicht mehr Leser aufraffen mal ‚ihren‘ Senf zu diesen wirklich hervorragenden Beiträgen hier hinzuzufügen. Denn nur Worte, die gelesen, egal ob ihnen widersprochen oder zugestimmt wird, sind nicht in den Wind gesprochen oder ins Wasser geschrieben. Sind Signale menschlicher Kommunikation, die immer auch im Denken und Fühlen weitreichender anregen können.
Ich freue mich schon, seit ich hier in den speziellen Literatur -Blogs – nicht undercover! (smile) – umhertrolle, wenn ich wieder Lesefutter von Red Bugs Culture hingestreut bekomme. Was gibt es Schöneres als beidseitige Freude.
Macht nur so weiter!
Euer Leser
Roland
Katrin
5. Februar 2017 at 12:49Danke, für die Ermunterung :)