Erste Erfahrung mit Schule
Als wir vor zwanzig Jahren nach Potsdam gezogen sind, ist unsere älteste Tochter gerade schulpflichtig geworden. Sie wünscht sich, mit ihren Freunden und Freundinnen in Wannsee eingeschult zu werden. Das ist kein Problem, unser Atelier ist noch in Wannsee. Ich radele sowieso jeden Tag über die Glienicker Brücke. Nicht nur ins Atelier, sondern auch, um unsere beiden jüngeren Kinder ins Kinderhaus zu bringen.
Schnell stellt sich heraus, dass das mit der Schule keine so gute Idee war. Die Schüler dürfen nicht in ihrem eigenen Tempo lernen, Lineale und Schreibzeug müssen rechtwinklig auf dem Tisch liegen, die Lehrer im Stehen begrüßt werden. Na ja. Unsere Tochter wird traurig. Ich meine, ernsthaft traurig. Als dann herauskommt, dass einige Jungs manchmal in der Ecke stehen müssen (wir reden von 1997), raunt es in der Elternversammlung eher so in Richtung »hat uns damals auch nicht geschadet«. Oh doch!
Eine neue Schule
Wir machen uns auf die Suche. Gott sei Dank ist in Potsdam gerade die erste evangelische Grundschule im Land Brandenburg eröffnet worden. Auf Elterninitiative und mit Unterstützung des Evangelisch Kirchlichen Hilfsvereins.
Die Schule in einem ehemaligen Generalswitwenheim ist noch eine komplette Baustelle. Ein, zwei Räume schon bespielbar. Und mit Kara Huber, der Frau des damaligen evangelischen Bischofs, als erster Schulleiterin und einer Lehrerin wird der Schulbetrieb mit knapp dreißig Erstklässlern aufgenommen.
Diese Schule ist für uns ein Glücksfall. Da dann alle drei Kinder ihre ersten glücklichen Schuljahre auf dieser Schule verbringen, sind wir natürlich jahrelang mit dieser Schule verbunden.
Man kann es gar nicht hoch genug einschätzen, welchen Zuwachs an Lebensqualität es hat, wenn Eltern wissen, dass die Kinder jeden Tag gern zur Schule gehen, ich meine: wirklich gern. Und dass sie dort gut aufgehoben sind und ernst genommen werden, ich meine: dass ihnen wirklich zugehört wird. Nie die Frage, hast du deine Hausaufgaben gemacht, nie die Frage, musst du noch etwas für die Schule tun. Schule ist nicht Schule, wie etwas vom echten Leben Unterschiedenes, sondern ein Teil des Zusammenlebens. Ein Lern- und Lebensort.
Aus diesem Grund galt allerdings in unserer Familie auch immer, wenn du mal keine Lust hast, dich zu schlapp fühlst, was besseres vorhast, bleib zu Hause. Wenn die Schule nicht das Beste ist, was du heute machen kannst, mach was anderes. Viele sagen dann: »Hey, das könnte ich mit meine Kindern nicht machen, dann würden sie gar nicht mehr zur Schule gehen.« Was ich erstens nicht glaube, und zweitens sich dann doch auch die Frage stellt, ob das am lustlosen Kind liegt oder eben an der lustlosen Schule.
Warum ist die evangelische Schule so gut?
Am Anfang sicher, weil sie so noch klein ist, weil alle großen Enthusiasmus haben und weil alle mitarbeiten. Mitarbeiten an einer neuen Vision von Schule. Eltern, Lehrer, Erzieher, Schüler, Hausmeister. Aufbruchstimmung mit Diskussionen, Arbeitseinsätzen und belegten Brötchen. Aber die Schule ist im Laufe der Jahre gewachsen. Mittlerweile lernen 269 Kinder und etwa dreißig Erwachsene voneinander und miteinander. Der Andrang ist enorm.
Ich denke vor allem, weil nicht nur auf den Fahnen, Flyern und Websites steht, dass jeder Mensch ein Individuum ist –mit eigenen Erfahrungen, Vorlieben, Bedürfnissen. Hier fängt der Ernst des Lebens nicht erst in der Schule an, sondern geht ganz normal weiter. Genauso wie der Spaß. Kinder fangen nicht erst in der Schule an zu lernen, und Erwachsene haben nach der Schule nicht ausgelernt.
Ich will hier nicht alle pädagogischen Neuerungen aufzählen, aber natürlich hat ein gegenseitiges ernst nehmen auch Auswirkungen auf alle Bereiche, wie Schule organisiert ist. Unterricht ist in den ersten Klassen jahrgangsübergreifend. Jeder kann in seinem Tempo lernen. Es müssen nicht alle gleichzeitig das Gleiche lernen. Es gibt Wochenpläne. Keine Hausaufgaben. Es ist Zeit für Fragen und Gespräche. Man hilft sich gegenseitig, statt Abschreiben zu verhindern. Es gibt natürlich keine Noten, sondern lange Gespräche, ausführliche Briefe am Ende eines Schuljahres.
Statt eine Schulordnung gibt eine Vereinbarung, die in ausführlichen Gesprächen der Schüler, der Eltern, der Lehrer und Erzieher und dann von allen gemeinsam erarbeitet wird. Eine Vereinbarung, an der alle beteiligt sind, die alle verstehen und die alle mittragen. Statt Pflicht und Gehorsam, plötzlich Freiheit und Verantwortung.
Was hat das alles mit Luther zu tun?
Ganz platt: es ist eine evangelische Schule. Finanziert durch Schulgeld, staatlicher Förderung und eben Kirchensteuer. Gut, aber ich bin vor gut fünfzig Jahren auch auf eine evangelische Schule gegangen und da bekam ich durchaus noch die Ohrfeige des Direktors, wenn er mich beim Geländerrutschen erwischte. Vielleicht wäre das sogar ganz im Sinne Luthers gewesen, der in seinem Sermon von den Guten Werken fordert, daß der Kinder Eigenwille soll gebrochen, und sie demüthig und sanftmüthig werden. Das kann es also nicht sein. Auf den »Pädagogen« Luther kann man sich da nicht berufen.
Was ist es also dann?
Aus meiner Sicht hat Luther aber einen Riesenbeitrag geleistet für das Ernstnehmen des Individuums. Er selbst lässt sich seinen Eigenwillen nicht vom Vater brechen, der eine andere Laufbahn und auch eine andere Ehefrau für ihn vorgesehen hatte. Nach allem was die Forschung so über Luther zu Tage fördert, scheinen Demut und Sanftmut auch nicht seine hervorstechenden Eigenschaften gewesen zu sein.
Er nimmt sich selbst ernst, versucht sich zu verstehen. Er leidet an Anfechtungen, wie er es nennt. Er merkt, dass ihm da übergestülpte Regelungen und Ordnungen (von Papst und Kirche) nicht helfen. Aus diesem Leiden arbeitet er das ummittelbare Verhältnis des einzelnen zu Gott heraus. Nicht der Papst und die große Institution Kirche können Regeln vorgeben. Sondern jeder ist für sich allein mit Gott. Das kann sich natürlich sehr bedrohlich anfühlen. Jeder stirbt für sich allein. Aber im Gespräch, im Dialog miteinander können sich wandelbare neue Gemeinschaften und Gemeinden bilden, meinetwegen auch eine neue Kirche.
Und so kann eben auch Schule sein. Jeder kleine und große Mensch ist mit seinem Päckchen allein, aber das Päckchen ist auch ein großes Geschenk, das jeder einbringen kann, wenn man ihn lässt. Eine Schule muss ja nicht zwangsläufig evangelisch sein, um alle Beteiligten, auch die Kinder ernst zu nehmen. Und natürlich müssen nicht alle Menschen an einer evangelischen Schule evangelisch sein. Aber es kommt auf jeden einzelnen Menschen an. Und mit den Bedürfnissen, Erfahrungen und Fähigkeiten jedes Beteiligten können im gemeinsamen Dialog ganz neue Regeln für Schule aufgestellt werden. Dann ist »verschult« plötzlich kein Schimpfwort mehr. Und dann sieht Schule ganz anders aus.
2 Comments
Roland
7. April 2017 at 10:30Hi Uwe,
Du berichtest hier von einer – geradezu traumhaft – idealen Schule, in die eure Kinder das Glück hatten gehen zu können. Diese Päckchen, nennen wir es einfach: Glück! haben wohl die wenigsten heutigen schulpflichtig werdenden Kinder, obwohl es da sicher Fortschritte seit dem letzten Jahrhundert gegeben hat. Was aber machen die Eltern und vor allem die Kinder, die nicht so ideale Möglichkeiten vorfinden? Die ihr ‚Päckchen‘ zu tragen lernen müssen?
Ich ärgere mich, wie Du auch, über das blöde Geraune in den Elternversammlungen ‚das hat uns ja auch nicht geschadet‘ – einfach weil das geistlos ist und diese Ansicht niemals den Fortschritt wagt. Hier möchte ich aber den Bogen zu Luther schlagen, der ein noch schwereres Päckchen zu tragen hatte, als die heutigen Kinder durch Indoktrination (und Leistungsdruck) in der Schule und überwiegend auch durch die Gesellschaft. Das sind dann auch die Eltern. Will hier gar nicht in die Einzelheiten gehen, aber ein Kind von dem man ein ‚Einser-Abitur‘ verlangt hat mehr stress durch die Familie, als durch die Schule. Die führt ja nur aus, was die Gesellschaft verlangt.
Zu diesem Thema möchte ich ein Zitat von Antoine S. Exupéry (ich weiß) provokativ hier anbringen:
‚Aber wenn du die Freiheit des Sängers erlangen willst, der auf seinem Seiteninstrument aus dem Stegreif spielt- muss ich dir da nicht erst die Finger üben und dich die Kunst des Sängers lehren, was Krieg, Zwang und Ausdauer bedeutet? Und wenn du die Freiheit des Bergsteigers erlangen willst – musst du dann nicht erst deine Muskeln üben, was Krieg, Zwang und Ausdauer bedeutet? Und wenn du die Freiheit des Dichters erlangen willst, musst du dann nicht erst dein Gehirn üben und deinen Stil feilen, was Krieg, Zwang und Ausdauer bedeutet? ‚ (aus Citadelle)
Mir – und meinen Lieben – hat das jedenfalls geholfen. Es hat uns in unseren ‚Eigenheiten‘ in unserer Individualität gestärkt, den Widrigkeiten der Welt entgegenzutreten, ohne unterzugehen. So wie Luther! Und wir erkennen unsere eigenen Fehler und Schwächen – das ist unsere Stärke! Wir bemühen uns, ohne zu ermüden, um eine Verbesserung der Verhältnisse. Ohne den gewaltigen Anspruch, gleich die ganze Welt verbessern zu wollen. Fangen wir bei uns selbst an, in der Familie, in unserem Lebensbereich. Seien wir nicht so geknickt, wenn es uns zu langsam geht, wenn es Rückschläge gibt. Luther hat es ja auch nicht geschafft – und der war ein ganz anderes Kaliber als wir es (bei normaler Einschätzung) wohl sind.
Das Leben ist schön, von ‚leicht‘ hat niemand was gesagt.
Danke für den Brückenschlag von Luther zu den Schulen von heute.
Liebe Grüße
Roland
Uwe
7. April 2017 at 16:15Hallo Roland,
interessant das du ein Zitat von Antoine de Saint-Exupéry anführst. Das Motto der evangelischen Grundschule hier in Potsdam ist auch von ihm.
„Wenn du ein Schiff bauen willst,
dann trommle nicht Menschen zusammen,
um Holz zu beschaffen,
Aufgaben zu vergeben
und die Arbeit einzuteilen,
sondern lehre sie die Sehnsucht
nach dem weiten, endlosen Meer.“
Aber ich glaube nicht, dass es Krieg und Zwang braucht um die Freiheit des Sängers zu erreichen, die in deinem Zitat genannt wird. Ausdauer schon. Ich glaube, dass es noch nicht einmal besondere Willenskraft braucht. Ich sehe oft Jungs, denen nachgesagt wird, dass sich sich nicht konzentrieren könnten, stundenlang einen Ball gegen das Garagentor schießen oder einen Skateboardtrick üben … Wenn man weiß, was man will, kommt die Ausdauer von allein, man hält die damit verbundenen Leiden leicht aus, ohne sie als Zwang zu empfinden. Vielleicht braucht man manchmal Unterstützung und Zuspruch, wenn unvermeidliche Rückschläge frustrieren.
Auch an der „idealen“ Schule war natürlich nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Natürlich gab es auch hier unterschiedliche Vorstellungen. Streitgespräche und Auseinandersetzungen. Und natürlich hängt hier auch viel von den einzelnen Menschen, ihren Vorstellungen Erwartungen und Ängsten ab, wie es sich weiterentwickelt.
Liebe Grüße
Uwe