Luther, Paulus, Tauler
1515
Die Bäume rauschen. Im Hof, vor dem Fenster fliegen die Blüten vorbei. Kühle Stille über den kalten Fliesen. Hin und wieder Fußgescharre. Knarzendes Holz, Klacken, Rascheln. Haut, die über Seiten fährt. Ein Sonnenstrahl bohrt sich durch die dicken Gläser. Der Blick wandert, nach innen gekehrt. Die schwere Baumwolle wärmt die Schultern. Kaum hörbare Atemzüge, angehalten, herausgepresst. Schritte auf dem Flur, aber die Nackenhaare bleiben liegen. Ein ganz, ganz leiser Luftzug durch den Spalt unter der Tür. Der Mitbruder ist vorüber. Nur noch das Schleifen seiner Sohlen fällt vom Rand des Bewusstseins. Die Wolken taumeln über den Himmel, rollen sich vor, vom Wind gezerrt. Der Sonnenstrahl verglüht. Feuchte Fingerkuppen, durchgeweichte Seitenränder. Die Wände atmen durch verkalkten Poren. Die Balken ziehen sich und dehnen sich unbemerkt. Knirscht die Feder, hastige Flecken, mit dem Ärmel trockengestempelt. Die Wangen glühen. Die Augen tränen. Irgendwo weht der Wind leise Stimmen über den Hof. Die Zehen angezogen und wieder ausgestreckt. Der Steiß knackt schon vom Sitzen. Die Unterarme prickeln. Und dann gluggert ein Murmeln von unten herauf. Als wäre es durch die Füße eingelassen worden. Die Handgelenke puckern. Er hat sich zur Erkenntnis durchgefressen, ist am Kern seiner eigenen Überzeugung angelangt. Läuft von unten bis oben voll von einer Zeile. Bis über den Kopfrand hinaus. Vollgesogen, der Brustkorb aufgestemmt, die Rippen vollständig zur Seite gebogen, hängt ein heißes Herz irgendwo zwischen den Worten. Eiskalte Luft eingesogen. Reißt ihn in die Höhe, zum Fenster. Jetzt kann er verschwommen die Anderen sehen, die unter den hellen grünen Blättern vorbeigehen. Die Kutten gegen den Wind festgehalten, der kühl um die Knöchel pfeift. Endlich ein Lächeln.
55
Weißt du, es war die selbe Sonne, ob du’s glaubst oder nicht, die gegen die Haut gedrückt hat, eintausendvierhundertsechzig Jahre vorher. Kannst du dir das vorstellen? Meistens sieht man den Alten seltsam glatzköpfig, mit einem Rest Haar irgendwo über der gefurchten Stirn. Die weiten Ärmel zurückgeschlagen, so dass die Hände angeleuchtet scheinen. Der hat sich Sorgen gemacht, die Worte drücken sich schon durch die Brust. Leise Silben, flüstern über die Lippen. Halten inne. Streichen. Eindeutiger. Schweißtropfen rollen, die stören ihn nicht. Er meint Menschen. Welche, die in seinen Gedanken schon mit den Fäusten fuchteln. Auf die muss man auch eingehen. Wer ist das, mit den groben Zwischenrufen, den kann man auch zum Schweigen bringen. Zuhören müssen sie. Gefesselt sein. Irgendwo unter dem Stoffgewurschtel drückt sich die schmale Wirbelsäule zwischen den dünnen Muskeln hervor. Berührt auch eine Haut Gewänder. Rippen heben und senken sich, unbedacht. Die Luft schmeckt anders, fruchtiger. Würziger. Aber der Himmel ist derselbe. Und wenn jetzt ein unsichtbarer Vorhang zurückgezogen wird, kann man den Schatten von einem anderen sehen, dunkler. Schwerer. Jahre entfernt. Aber die Worte hängen an einem Spinnfaden, der durch die Zeit gefädelt wurde. Einer macht sich Gedanken, wie er die Menge fesseln kann, und der andere greift die Worte aus der Luft. Einfach so, mit einer klobigen Hand auf den Seiten liegend.
1340
Wo eben noch jemand durchs hohe Gras gesprungen ist, die Hände zum Himmel gestreckt, als könnte er die Sonnenstrahlen fassen, die ihm die Nasenspitze kitzeln, ist jetzt alles in sich zusammengefallen. Unbelebte Masse, irgendwelche Knochen zu einem Haufen aufgestapelt, mit erschlafften Sehnen verknüpft, eine hohle Birne in der die Gedanken verhallen. Die Wände rücken näher. Auf dem Weg zum Ufer von Weinkrämpfen geschüttelt. Wo war denn das glucksende Feuer, mit dem eben noch der ganze Körper wie ein lebendiges Feuerwerk gebritzelt hat. Wo war ich stehengeblieben? Das ist der Meeresgrund auf dem die Sohlen aufschlagen, darunter gibt es nichts. Außer vielleicht die Höllenfeuer, aber wer weiß das schon. Wenn du noch einen Schritt weiter gehst, sinkt alles in die heilsame Umarmung hinein, aber noch ist der Horizont eine gebogene Linie, die einen immer weiter an der Nase herumführt. Weitergehen, umblättern, nicht nach hinten umdrehen. Auch hier greift einer durch Zeit hindurch und fasst den Dunklen an der Schulter. Bis das Schlüsselbein knackt. Geh weiter. Die Augen sind schon halb blind, sind das noch Tränen oder ist das Regen, Meer…? Zerstobene Atome, die klappernd gegeneinander schlagen, wie der rasselnde Atem eines untoten Skelettmanns. Und wenn man durch die letzte Wolke gefallen ist, erstreckt sich unter einem endlich die vertraute Geografie der eigenen Heimat. Da ist die blitzende Flussbiegung an der ich als Kind gespielt habe, hier die Hügelkette, aus der Ferne ein schiefes Lächeln, grüne Flächen, einladende Wogen freundlich gesinnten Ackerlands. Und wenn sie mir die Fackel unter die Fußsohlen halten. Den Anblick kann ich nie mehr vergessen.
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Beitragsbild: Foto: Martina Nolte, Lizenz: Creative Commons by-sa-3.0 de
2 Comments
Uwe Carow
14. April 2017 at 08:53Sehr cooler Beitrag. Starke Bilder. Von Johannes Tauler hatte ich noch nie etwas gehört.
Roland
14. April 2017 at 12:27Hi Isabel
sehr schön hast du gekonnt mit poetisch besinnlichen Worten die Karfreitagsstimmung aufgehellt. Und nebenbei über den mir ebenso unbekannten Tauler (den ich erst googlen musste) eine Brücke zum Glaubensverständnis geschlagen. Für die, die auch den Tauler und sein Verständnis von Gott, Gotteserfahrung, noch nicht kennen, hier der Auszug aus Wikipedia
Johannes Tauler (* um 1300 in Straßburg; † 16. Juni 1361 ebenda) war ein deutscher Theologe und Prediger. Er war Dominikaner und zählte in seinem Orden zur neuplatonischen Strömung. Mit Meister Eckhart und Heinrich Seuse gehört er zu den bekanntesten Vertretern der spätmittelalterlichen deutschsprachigen Dominikaner-Spiritualität.
Ebenso wie Meister Eckhart geht Tauler von der Überzeugung aus, dass Gott im „Grund“ der menschlichen Seele dauerhaft – wenn auch gewöhnlich auf verborgene Weise – anwesend ist und daher dort erreicht werden kann. Voraussetzung für die innere Gotteserfahrung ist nach Taulers Lehre ein unablässiges Bemühen um Selbsterkenntnis. Die Selbsterkenntnis ermöglicht es, die Hindernisse, die der Begegnung mit Gott entgegenstehen, abzubauen. Die „Einkehr“, mit der man sich von weltlichen Bestrebungen abwendet, seinem Inneren zuwendet und Gelassenheit erlangt, bedeutet aber keineswegs eine Vernachlässigung der im Alltagsleben zu erfüllenden Aufgaben. Vielmehr sollen tätiges und beschauliches Leben eine unauflösliche Einheit bilden. Die nachdrückliche Aufwertung der Alltagsarbeit, insbesondere der gewöhnlichen Erwerbstätigkeit, die als integraler Bestandteil der Spiritualität aufgefasst wird, ist für Tauler charakteristisch.
Hier ist die Rede von einem tätigen, aber auch beschaulichem Leben die zur Gelassenheit führt… Vielleicht, möchte ich dazu sagen. Erkenntnis und Selbsterkenntnis – über seine eigenen ‚Möglichkeiten‘ sind sicher hilfreich – aber ohne festen Willen geht es kaum.
Wunderschöner, poetischer Beitrag! Macht Freude von Dir zu lesen.
Liebe Grüße
Roland