Im Nebel eines kalten Novemberabends stapfte ich, tief in Gedanken versunken, durch den Schlosspark Charlottenburg. Der kalte Kies unter meinen Stiefeln knirschte leise und die Umrisse der Bäume verschwammen mit dem Dunkelblau des Himmels. Von irgendwoher konnte ich die Straße hören, ein schlammiges Rauschen am Rande meiner Wahrnehmung. Ansonsten lag eine unheimliche Stille über dem Park. Der Winter hatte seine Besucher fest im Griff. Ich hatte die Hände in den Taschen vergraben.Trabte wie in Trance zum Takt meiner eigenen Schritte. Mein Ziel war das Schloss. Einen Blick auf die milchig weiße Fassade zu werfen, die gespensterhaft im Zwielicht leuchtete. Plötzlich hielt ich an. Ruckartig und überrascht von meiner eigenen Existenz. Ich hatte etwas gehört.
Ein Knacken und Knistern, dicht hinter mir. Nervös spähte ich um mich herum, in die dichter werdende Finsternis. Doch nichts. Vielleicht, war es nur das Knacken meiner Gedanken gewesen, die sich einen Weg durch meine Synapsen fraßen. Kopfschüttelnd ging ich weiter. Die Schultern hochgezogen, das Karussell wieder angeschmissen. Ich war gerade um die Ecke gebogen und sah das Schloss mit seiner dunklen Kuppel in meinem Sichtfeld auftauchen, da riss mich erneut ein Geräusch aus dem Takt. Jetzt hatte ich es ganz deutlich gehört. Ein Flüstern und Raunen. Leise aber bestimmt. Ich fuhr herum. Hinter mir rauschten die Bäume. Dunkle Schatten. Lachten mich aus. Eine Weile lang stand ich so da. Starrte blicklos in die Landschaft, die langsam von der Dunkelheit verschluckt wurde. Eine Gänsehaut kroch mir über den Nacken, ich schauderte, vergrub das Kinn im Schal. Was soll’s. Ich wollte zum Schloss. Es gab einen ganz bestimmten Punkt, von dem aus man sich direkt gegenüber vom großen Fenster befand, in dem in der Weihnachtszeit ein Baum blinkte. Jetzt war da nur Dunkelheit.
Ich stellte mich, mit den Stiefelspitzen auf dem Rasen, an meine Position und begutachtete das große Gebäude. Wie seltsam leer ein unbewohntes Schloss aussah. Es knackte erneut. Und dieses Mal jagte mir das Geräusch einen Schauer über den Rücken, der mich in Bewegung setzte. Ohne dass ich verstand was ich tat, war ich schon losgerannt. Die kalten Hände zu Fäusten geballt. Heiße und kalte Schauer jagten mich bis zu einem Punkt hinter den Bäumen, an dem ich keuchend inne hielt. Ich zog mir die Mütze tiefer über die Ohren. Mein Herz klopfte wild. Hier war ich in Sicherheit. Und dann sah ich sie. Erst eins, tauchte in weiter Entfernung aus dem Wald auf. Dann ein zweites. Und während ich noch dastand und mein Atem hektische kleine Wölkchen vor meinem Gesicht bildete, folgten drei, vier, fünf. Eine ganze Gruppe von baumelnden körperlosen Lichtern, die in stummer Prozession durch den Park wandelten. Ich spähte hinüber. Und musste grinsen.
Hinter jedem gelben Licht sah ich ein kleines Gesicht, mit konzentrierter Miene auf die kleine Kerze spähend, die an einem langen Holzstock befestigt in der selbstgebastelten Laterne brannte. Große, lange Schatten begleiteten die vielen ernsten Träger, lachten und plauderten und sangen den Text vor, der zwischen Rotznasengeschniefe und Thermoskannengeläut immer wiederholt wurde.
Meins ist ausgegangen Papa! Ein atemloses Keuchen, schockiertes in die Lampe spähen. Dann das Zischen eines Feuerzeugs. Magie. Die Laterne leuchtet.
Die Prozession zieht jetzt dicht an mir vorüber und ich trete einen Schritt zurück, als würde ich ihnen Platz machen. Dabei kann keiner mich sehen, in der Dunkelheit hinter den Bäumen. Ich trete auf einen Ast, der leise knackend zerbricht. Das Mädchen dreht sich um. Starrt mit weit offenen Augen in die Richtung aus der das Geräusch gekommen ist. Dann wendet sie sich ab, schmiegt sich an Papas Arm. Laterne, Laterne klingt es noch lange in meinen Ohren wieder. Während ich, seltsam glücklich, durch den dunklen Park nach Hause wandere.
Martinstag
Martin Luther wurde an einem Tag getauft, der zu seinerzeit den Anfang der Fastenzeit markierte. Das letzte Große Festessen bevor bis Weihnachten gefastet wurde. Und gleichzeitig war Martini, das Ende des Bauernwirtschaftsjahres, das Vieh wurde von den Weiden geholt und die Steuern waren fällig. Irgendwie passend, dass Martins Namenstag einen Tag kennzeichnet, der traditionell das Ende einer ertragreichen Sommerzeit und den Anfang des strengen Winters einläutete. Stellen und Verträge liefen bis zu diesen Tag aus, und die Festlichkeiten waren der Abschied vom warmen Überschwang des Sommers. Ab jetzt waren Zahlungen zu entrichten, sittsam zu fasten und in der Stille des Winters nachzudenken. Ein Neuanfang.
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