Was machen wir nicht alles aus Angst. Aus Angst vor schlechten Noten in der Schule, aus Angst keinen Job zu bekommen, seinen Job zu verlieren, aus Angst vor strafenden, beleidigten oder uninteressierten Eltern, aus Angst vor Fremden, aus Angst vor Neuem. Oder was machen wir alles nicht vor lauter Angst.
In der Psychologie würde man das extrinsische Motivation nennen. Das Verhalten wird geleitet aus Angst vor Strafe, Bloßstellung, Liebesentzug und anderen Nachteilen oder von der Aussicht auf äußerliche Vorteile oder Belohnungen. Es lassen sich verschiedene Stufen der Motivation unterscheiden.
Die Stufe eins: Angst
Luther war ein ängstlicher Mensch. Whaaaat? Dieser Mann, dieser Heros soll ein Schisser gewesen sein. Dieser Luther, der mal eben die katholische Kirche zerlegt hat, der Papst und Kaiser trotzte, no matter what?
Ich glaube, anfänglich schon. Auf dieser ersten Stufe der Motivation ist die Furcht vor Strafe oder der Vermeidung von vermeintlich schlechten, verheerenden Folgen der ausschlaggebende Antrieb, etwas zu tun oder zu lassen. Die Angst ist so groß, dass man beinahe alles tun würde, um sie zu vermeiden. Alles Tun ist motiviert aus Furcht. Die Konzentration liegt auf der Vermeidung von Strafe. Sie ist die Motivation für alle Handlungen. Man versucht zu tun, was andere von einem fordern, oder von dem man glaubt, dass andere es erwarten. Sei es das soziale Umfeld, der Vater oder Gott.
Ohne Frage hat Luther Angst vor seinem Vater gehabt. Es ist auch wohl anzunehmen, dass er sein anfängliches Jurastudium aufgenommen hat, um dessen Erwartungen zu erfüllen.
Als junger Mensch wächst man ja auch in derart viele Vorgaben hinein, dass sie zu Selbstverständlichkeiten werden, die zu hinterfragen schwerfällt. Erst allmählich eckt man dann mit diesen Vorgaben an. Man merkt es daran, dass man sich echt extrem unwohl fühlt. Oder sogar krank wird. Man spürt einen eigenen Willen und Bedürfnisse, die sich nicht entfalten können oder sollen.
Ich bin noch aufgewachsen mit schön gereimten Merksprüchen wie »Das Händchen, was die Mutter schlägt, wird abgesägt« oder »Kinder, die was wollen, die kriegen was auf die Bollen« sprich: bekommen den Arsch versohlt. 60er Jahre. Sollte heute kein Thema mehr sein. Aber Angstmache ist aus der Erziehung natürlich noch längst nicht verschwunden. Paradoxerweise geht das oft mit der Schule los.
In Luthers Fall war dann irgendwann die Angst vor Gott größer als die Angst vor dem Vater. Den berühmten furchterregenden Blitzschlag nutzte er, um sich aus dem Jurastudium zu verabschieden, den vom Vater vorgezeichneten Lebensweg zu verlassen und ins Kloster zu gehen.
Die Stufe zwei: Belohnung
Eng mit der Motivation aus Angst hängt die Hoffnung auf Belohnung zusammen.
In dem sagenhaften Gewittersturm soll Luther die Heilige Anna angefleht haben: »Heilige Anna, hilf! Lässt Du mich leben, so will ich ein Mönch werden.« Man kann da Todesangst heraushören. Es klingt in meinen Ohren dabei aber nicht nur die konkrete Angst heraus, vom Blitz erschlagen zu werden, sondern auch die Angst, sein Leben grundsätzlich ändern zu müssen. Es lässt sich leicht nachvollziehen, wie furchterregend es sein kann, einen vorgezeichneten Weg in den bürgerlichen Wohlstandsberuf zu verlassen und Mönch zu werden und dabei auch noch den Erwartungen der Familie, der Gesellschaft, des Vaters zu widersprechen. Seine gesamte Ich-Identität zu wechseln, kann schon subjektive Todesangst auslösen. Mit und ohne Gewitter.
In dem Ausruf schwingt aber auch die Hoffnung auf Belohnung, nämlich als Mönch weiterleben zu dürfen. Die Hoffnung, seinen Weg zu finden und angenommen zu werden in einer Gemeinschaft.
Wie wir wissen, hat Luthers Angst, vor Gott nicht zu genügen, im Kloster nicht aufgehört. Es ist eher schlimmer geworden. Was er auch tat, es reichte nie aus, um die endgültige Belohnung zu erhalten. Die Gewissheit als guter Mensch – nun ja – in den Himmel zu kommen.
Aber er hat nicht locker gelassen, die Angst und die Hoffnung auf Belohnung haben ihn angetrieben tiefer zu bohren, weiter zu forschen. In dem für ihn wichtigsten Buch – in der Bibel. Er hat gelesen, gelernt, nachgedacht und über dem Text meditiert und ihn zerkaut. Ich glaube, dass war schon ein Teil der Lösung, weil er in diesem intensiven Lernprozess, seinem Lerngegenstand – nämlich Gott – sofort nahe war.
Er hat nicht mehr auf äußere weltliche Belohnung gesetzt. Sein Bibelstudium und seine Exerzitien gingen weit darüber hinaus, was man eigentlich von einem Mönchlein erwartet hätte. Doch er hat in seiner Heiligen Schrift unaufhörlich nach Vorbildern, Anleitungen und Lösungen gesucht. Und er hat sie gefunden. Er hat für sich herausgefunden, dass Gott aus innerer Überzeugung handelt. Gnädig ist, weil er es eben sein will. Weil er es versprochen hat. Dass er sich nicht bestechen, belohnen oder beschwindeln lässt. Weder durch fasten, kasteien, der Anhäufung guter Werke und schon gar nicht durch den Kauf von päpstlichen Ablassbriefen.
Die Stufe drei: innere Überzeugung
Gott handelt aus innerer Überzeugung. Luther auch. Ab jetzt speist sich seine Motivation aus seinen inneren Überzeugungen. Er tut, was er glaubt, tun zu müssen, unabhängig davon, ob er dafür eine Belohnung erhält oder nicht. Die Angst vor Strafe ist verflogen. Die vor dem Papst und dem Kaiser sowieso. Nein – nicht dass er in den folgenden unglaublich harten Auseinandersetzungen nicht auch Angst gehabt hätte. Er wurde schließlich zum Abschuss freigegeben. Aber er war jetzt entschlossen, alles zu tun, um seine Ziele zu erreichen, auch wenn es bedeutet, seine ursprünglichen Ideen, Überzeugungen, Glaubenssätze über Bord zu werfen.
Das nennt man intrinsische Motivation. Dabei ist keine äußere Belohnung mehr notwendig, um ins Handeln zu kommen. Die Durchführung der Handlung geschieht aus einer inneren Notwendigkeit, ist in sich selbst schon die Belohnung. Und man ist durchaus bereit, Nachteile, Strafen und Leiden in Kauf zu nehmen.
Diese innere Überzeugung ist deutlich stärker als die Motivation durch äußere Belohnung, durch Zuckerbrot und Peitsche. »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders« ist das geflügelte Wort, dass diese Haltung vielleicht am treffendsten wiedergibt. Glücklich die Menschen, die diese Haltung erreichen können. Diese Stufe der Motivation geht über rein vernünftige Überlegungen hinaus. Konventionen werden hinterfragt und wenn nötig gebrochen. Die etablierten Regeln gelten nicht mehr. Der innere Kompass zeigt die Richtung. Auf dieser Stufe tut man dann Dinge, die die meisten für verrückt halten.
Um die Kraft dafür zu haben, muss man aus meiner Sicht allerdings noch eine weiter Stufe der Motivation erklimmen – und Luther hatte sie erreicht.
Die Stufe vier: Liebe
Er ist darüber hinausgewachsen, sich nur um seine eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Es ging ihm nicht mehr nur um seine Anfechtungen. Nicht mehr nur um sein Seelenheil. Das war sein ursprünglicher Antrieb, sein ursprüngliches Ziel. Jetzt war sein Ziel sofort, die »Christenmenschen« zu befreien. Ihnen den Weg aus dem Irrglauben zu zeigen, sie könnten sich und ihre Verwandten aus dem Fegefeuer frei kaufen, sie könnten sich mit Gott gut stellen, wenn sie auf den Knien rutschten oder Gebete herunterleierten. Er wollte ihnen helfen, so viel Glück, Freude und Seelenheil wie möglich zu erlangen.
Es war sicher noch nicht die Stufe des allumfassenden Mitleids, wie sie Buddhisten zu kultivieren versuchen. Aber sie ist heute leichter zu erreichen als je zuvor. Auf dieser Stufe können die wahrhaftig magischen Dinge passieren. Let’s go for it.
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