Gehorsam
19. Mai 1505
Und fühlt es sich nicht gut an, jetzt ein ordentlicher Jurastudent zu sein? In Erfurt. Zivilrecht. Der Vater findet es großartig. Und es hat ja auch was Angenehmes, wenn einem die Entscheidungen abgenommen werden. Vater hat den Plan. Man studiert die oberitalienischen Rechtsgelehrten und deren Kommentare zum römischen Zivilrecht. Eine Sammlung von Meinungen – zum Recht. 100 000 Glossen, also Anmerkungen, die das römische Zivilrecht – auslegen. Geht es nicht eindeutiger?
Luther, damals noch Luder, ist einundzwanzig. Was ist eigentlich wichtig im Leben? Er will es ganz genau wissen, nicht in 100 000 Varianten. Wenn es doch auf den Tod hinausläuft und der ziemlich schnell kommen kann. Zum Beispiel durch eine Pestepidemie, wie sie 1504-05 Erfurt herrschte. Eine Krankheit, von der man weder wusste, wie sie sich verbreitete, noch wie man sie zu behandeln hatte. Die trotz Feuern in den Straßen, weil die Luft – vielleicht – verpestet war – oder dem Essig, den man sich über den Körper kippte, ständig wiederkam.
„Was blähst du dich auf in deinem Stolz. Staub bist du und Staub musst du werden, ein verfaulter Kadaver, die Speise der Würmer.“ Was auf dem Grabmal des Kardinals La Grange steht, trifft die damalige Überzeugung. Es kann sehr schnell vorbei sein.
Angst
Wann trifft man Entscheidungen? Schwierige Entscheidungen am besten unter Druck, in Not. Wenn man sich zum Beispiel mit dem Degen, den man als Student tragen durfte, die Schlagader am Bein aufschneidet. Und fast verblutet. Wie blöd kann man sein? Und dann ganz zufrieden im Krankenbett: Luder lernt Laute. Auch eine Art, Entscheidungen zu treffen oder treffen zu lassen.
Vergleiche
Ist das wirklich gut, was ich mache? Tue ich das Richtige? Da gibt es diese zwei Juraprofessoren und das Gerücht: Auf dem Totenbett sollen beide inständig ihre Berufswahl bereut haben. Weil man als Mönch besser streben könne, mit Zuversicht und Glaube, statt mit 100 000 Auslegungen des Zivilrechts. Da ist doch was dran, oder?
Ratschläge
Ende Juni 1505
Der Vater hat eine andere Vorstellung vom Leben. Den Dingen, die anstehen: Zum Beispiel die Heirat. Rückblickend sieht Luther das so: Der Vater wollte ihn durch eine ehrenvolle Heirat fesseln. Und darum reist Luder nach Hause, zu Fuß, mitten im Studium, wir kennen alle diese Krisen. Mit einundzwanzig hat man keine Zeit, auf das Ende des Semesters zu warten. Das Leben steht an. Das muss geklärt werden.
Luder: „Das Jurastudium ist nichts für mich.“
Vater: „Du hast ja noch nicht einmal richtig angefangen.“
Luder: „Es fühlt sich einfach nicht richtig an.“
Vater: „Studier erst einmal weiter, dann werden wir schon sehen.“
Verarbeitung
Der Rückweg, zurück nach Erfurt, irgendwie ist man geschlagen. Wie soll man wissen, was richtig ist? Mit Einundzwanzig hat man keine Erfahrung. Nur so eine Ahnung, was sich gut oder nicht so gut anfühlt. Also macht man, was einem gesagt wird. Und es fühlt sich … nicht gut an. Alles abwägen und durchkauen und sich durch den Kopf gehen lassen. Zeit hat man ja genug, man ist zu Fuß. Das dauert also. Und dann das Gewitter. Also echt jetzt, auch das noch, muss das sein?
Es ist ja ganz klar, wenn man anderen gehorcht, wie soll man dann glücklich werden? Das Gewitter, ein Zeichen, in Stotternheim am 2. Juli 1505.
Belegt eigentlich nur durch Luther selbst: In der Tischrede von 1539 erzählte er, wie er von einem Blitz niedergesreckt in Angst und Schrecken gesagt habe: „Hilf du Sankt Anna, ich will ein Mönch werden.“
Eigene Entscheidung
Nur zwei Monate nach Beginn des Jurastudiums tritt Luder ins Kloster ein. In nur zwei Wochen löst Luder sein Quartier auf, verschenkt seine Sachen, unterrichtet die Freunde, die ihn dann auch – nach einer letzten Feier mit Lautenspiel – ins Kloster begleiten. Die Eltern erfahren erst nachträglich davon.
Rechtfertigung
Zwei Jahre nach dieser Entscheidung erklärt Luder dem Vater am Rande seiner Primizfeier, also seiner ersten Messe, er sei durch Angst und Schrecken vor seinem baldigen Tod ins Kloster gezwungen worden. Übersinnliche Kräfte. Also nicht freiwillig. Irgendwie ist das so besser für den Vater zu verdauen. Kein richtiger Ungehorsam. Und sie glauben es beide. Übersinnliche Kräfte – Luder denkt an Gott, der Vater eher an den Teufel.
Entschuldigung
1521 sieht das alles schon wieder anders aus. Ins Kloster zu gehen – aus einem reformatorischen Standpunkt heraus kann das nur ein Fehler gewesen sein. Auf der Wartburg verfasst Luther ein Schreiben „Über das Mönchsgelübde“. Das Vorwort ist an den Vater gerichtet: Luther bittet um Verzeihung für das Aufgeben des Jurastudium und den Eintritt ins Kloster. War wohl doch eher der Teufel, der ihn da geritten hat. Sorry.
Legitimation
Da es auf Latein verfasst war, was der Vater nicht verstand, war dieses Entschuldigung wohl eher an eine Öffentlichkeit gerichtet, für die Klosterbesuch und Reformation nicht gut zusammenpassten. Denen musste man diese Entscheidung erklären. Rückblickend will es Luther gerne so aussehen lassen, als hätte die katholische Kirche ihn mit Angst und Schrecken und falschen Heilsversprechungen ins Kloster gelockt. Das klingt besser, oder?
Verantwortung
Aber niemand hat Luder gezwungen, im Kloster zu bleiben. Eigentlich – und selbst die Kirche hätte ihm da Recht gegeben – sind Entscheidungen, die unter Angst getroffen werden, nämlich nicht bindend. Seine Studienkollegen haben es Luder immer wieder gesagt: Du kommst raus aus der Kiste! Aber Luder wollte nicht. Bemühte sich sogar außergewöhnlich stark ein guter Mönch zu sein. Im Kloster hieß es, er wolle 12 Kegel treffen, wo doch nur 9 stünden. Leistungsfrömmigkeit nennt man das heute.
Also standen neue Entscheidungen an … und 100 000 Arten, diese zu interpretieren.
(Quelle: Schilling)
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