Liebe Autor*innen, liebe Leser*innen, heute geht es in der Reihe über autobiographisches Schreiben um Das Lächeln meiner Mutter, von Delphine de Vigan. 2013 in der Übersetzung von Doris Heinemann bei Droemer, München erschienen.
Die französische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Rien ne s’oppose á la nuit« bei éditions Jean-Clade Lattès.
Roman oder Biographie?
Delphin de Vigans Buch gehört zu den autobiographischen Texten, die jemand verfasst, in dem Versuch, Dinge, Erlebnisse, Ereignisse zu verstehen, die sein Leben bestimmt und erschüttert haben. Oder einfach auch nur aushaltbar zu machen in der Niederschrift.
(Ganz im Gegenteil übrigens zu den vielen Autobiographien mehr oder weniger prominenter Menschen aus Film und Fernsehen, die gerade die Büchertische überfluten und von denen sich Verlage anscheinend erhoffen, dass genug Yellow Press Leser auch zu diesen Büchern greifen werden.)
Auf dem Innentitel der deutschen Ausgabe steht »Roman«. Wie kommt der Verlag darauf? Wenn es nicht nur eine reine Marketingüberlegung ist (ein Roman verkauft sich vielleicht besser als eine Autobiographische Untersuchung) stellt sich die Frage, ob dieses Buch also überhaupt in eine Blogreihe über autobiographisches Schreiben gehört?
Wäre das Buch wirklich ein Roman mit frei erfundenen Figuren und Plot, wäre es eine großartige Mockumentary. Denn wie in diesem Filmgenre üblich, führt Vigan eine große Menge an dokumentarischem Material an, das die Authentizität und die Intensität ihrer Nachforschungen belegen soll, oder vielleicht besser belegt. Sie redet mit Verwandten, den Geschwistern ihrer Mutter, gleicht Erinnerungen ab, wertet Briefe, Fotos und Texte aus. Nicht alle sind über ihre Nachforschungen erfreut. Sie ergänzt ihre eigenen Erlebnisse durch die Schilderungen ihrer jüngeren Schwester. Natürlich könnte das auch alles erfunden sein. Aber es gibt keinen Grund, das anzunehmen.
Active Questions
Der romanhafte Eindruck entsteht meines Erachtens vor allem durch einen über alles Biographische durchgehaltenen Spannungsbogen.
Nein, ich sollte sagen: die Spannungsbögen, (Plural). Denn Vigan ist eine Meisterin der »active questions«. Nie reiht sie die Ergebnisse ihrer Recherchen, ihrer Überlegungen, ihrer Erkenntnisse aneinander. Immer wieder wirft sie Fragen auf, bringt die Leser*in dazu, sich Fragen zu stellen, von den ganz kleinen, bis zu den ganz großen. Manchmal beantwortet sie die kleinen Fragen sehr schnell, um gleich eine neue aufzuwerfen.
Gleich in der ersten Zeile liegt die Mutter in ihrer Wohnung. Die Beugen ihrer Fingerknöchel sahen aus, als seien sie voller Tintenflecken.
Active question: Warum liegt sie dort blau angelaufen? Die Antwort kommt gleich: Meine Mutter war seit mehreren Tagen tot.
Für die Tochter kommt die Antwort nicht so schnell, sie braucht minutenlang, eine lange unbeholfene fiebrige Zeit, um zu erkennen was sie dort sieht. Und noch im gleichen Absatz, ja sogar ohne Zeilenumbruch katapultiert sie die Leser*in zwei Jahre – fast forward – in die Situation, in der Vigan das vorliegende Buch schreibt und sich fragt: durch welchen Mechanismus sich mein Hirn derart lange weigern konnte, die Leiche meiner Mutter wahrzunehmen.
Große und kleine Fragen
Das ist natürlich nicht die Frage, die sie wirklich interessiert, sondern sie führt die Leser*in am Ende dieses halbseitigen Absatzes, mir dem sie das Buch beginnt, gleich zu der großen active question, die sich über das ganze Buch zieht. Das ist nicht die einzige Frage, die ihr Tod bei mit hinterlassen hat. Warum ist die Mutter gestorben? Warum hat sie sich mit 62 Jahren das Leben genommen?
Dieser Frage geht sie nach und schreibt dabei einen sehr autobiographischen Text. Denn natürlich ist das Leben, das Leiden ihrer Mutter eng mit ihrem eigenen Lebensweg verbunden. Sie nutzt dazu zwei Perspektiven. In der dritten Person schreibt sie von ihrer Mutter, deren Kindheit, Jugend. In der ersten Person über sich, ihre eigenen Erlebnisse mit der Mutter, über ihre Nachforschungen, über ihren Schreibprozess.
Dabei nutzt sie, wie erwähnt, Erinnerungsstücke. Und sie setzt sie dramaturgisch versiert ein.
Ein wunderbares Beispiel
Ein Foto, das de Vigan von ihrer Tante zugeschickt bekommt. Es zeigt die Innenseiten einer Durchreiche, auf die die Großmutter die Geburtsdaten – und gegebenenfalls auch das Todesjahr – aller ihrer Nachkommen verzeichnet hat. De Vigan gibt den Inhalt dieser Liste nach wenigen Buchseiten wieder.
Zum einen ist die Liste ungeheuer hilfreich, um sich in der Familie zurecht zu finden. Ich habe immer wieder zu dieser Liste zurückgeblättert, um mir die Altersunterschiede der Geschwister zu verdeutlichen. Lucile, de Vigans Mutter war demnach das dritte von neun Kindern. Vier Mädchennamen, fünf Jungen.
Und zum anderen – wirft De Vigan mit dieser Liste natürlich eine neue active question auf. Denn hinter drei der Jungennamen steht dort eben auch das Todesdatum. Sie sind nur 6, 15, und 28 Jahre alt geworden. Wieso sind sie so früh gestorben? Wie hält eine Familie so etwas aus? Was hat das mit dem Tod der Mutter zu tun? Fragen!
Weitere Fragen
Im Klappentext heißt es u.a. Gleichzeitig zeichnet Delphine das lebendige Bild einer französischen Großfamilie im Paris der 50er und 60er Jahre.
Ein unglaubliches Bild von blinder Unbeschwertheit und robuster Unbekümmertheit. Von einem narzisstischen Vater und einer überforderten Mutter:
Milo, der sich äußerst behende auf seinem Nachtopf fortbewegt – Topf, Beinchen, Topf, Beinchen – war der Lauteste von allen. Liane versucht ihren Sohn zu entschärfen, indem sie ihn mitsamt seinem Töpfchen auf eine Kommode setzte. Milo brach sich das Schlüsselbein, und der Radau ging weiter.
Milo, wir wissen es aus der Tafel, ist nur 28 geworden. Wieso? Was ist passiert?
Die alles umspannende Frage
Ein langer Abschnitt beschäftigt sich mit der Vergangenheit des Vaters während der deutschen Besatzung. Und auch hier baut de Vigan fast aus dem Nichts wieder eine active question ein.
Denn aus ihrer heutigen Sicht war Georges’ Mitarbeit an der Révolution nationale die eines opportunistischen jungen Mannes, der nach Anerkennung gierte und kein Urteilsvermögen besaß.
Selbst wenn sich Lucile, wie andere ihrer Geschwister, Fragen nach der Vergangenheit ihres Vaters stellte, selbst wenn sie sich über seine vielen Widersprüchlichkeiten wunderte, so glaubte ich doch letztendlich, dass sie Georges, was sein Verhalten in der Besatzungszeit angeht, zumindest einen Zweifel zugestand.
Und jetzt der Satz mit der active question:
Gehasst hat sie ihn aus anderen Gründen.
Welche Gründe sind das? Was gibt es da für ein Geheimnis, das de Vigan offensichtlich kennt, aber noch nicht preisgibt?
Wir können es uns denken, denn de Vigan zeichnet auch das Bild einer Familie im 21. Jahrhundert. Ein Bild mit kooperierenden, aufgeschlossenen, aber auch verbohrten und abweisenden Verwandten.
Einer Familie, in der Missbrauch ohne Zweifel – wie in so vielen Familien –, ein große Rolle gespielt hat. Einer Familie, die das nicht so sehen möchte.
Die entscheidende active question, die »Das Lächeln meiner Mutter« uns als Leser*innen stellt: wie können wir aufmerksamer sein, wie können wir besser auf uns aufpassen, besser miteinander umgehen.
Das Stilmittel der active questions, das wir eher aus Romanen, aus Thrillern kennen, eignet sich also auch hervorragend für die Dramarturgie eines autobiographischen Textes.
Haut in die Tasten
Uwe
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