Heute geht es um ein Buch, um das ich lange einen Bogen gemacht habe. Ich habe bisher nicht nur vermieden, es hier zu besprechen, sondern es überhaupt zu lesen. Allerdings kann es in einer Reihe über autobiographisches Schreiben nicht ausgelassen werden. Es geht um Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf. Der Text ist posthum 2013 bei Rowohlt, Berlin erschienen. Vorher war er als fortlaufender Blog im Internet zu lesen.
2010 ist bei Herrndorf ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert worden. Nein, nicht einfach ein bösartiger, sondern ein mit Sicherheit tödlicher Krebs. Die Statistiken verzeichnen eine durchschnittliche Lebenserwartung von 17,1 Monaten.
Herrndorf beginnt online ein Journal zu schreiben, in dem er seine Freunde über seinen Zustand auf dem Laufenden halten möchte. Nach einiger Zeit stellt er auf zuraten der Freunden den Blog öffentlich unter dem Titel Arbeit und Struktur. Herrndorf lebt noch drei Jahre. Aus dem Blog wird ein literarisches Projekt. Nach den Aussagen seiner Freunde hat Herrndorf sich eine Veröffentlichung in Buchform nach seinem Tod gewünscht und vorbereitet.
Arbeit und Struktur reiht sich also ein in die, nach dem Auftreten von Aids, zunehmenden Beschreibungen des eigenen Sterbens. Von Harold Brodkey bis Christoph Schlingensief. Ich möchte hier auf zwei Punkte eingehen, die Arbeit und Struktur in meinen Augen aus dieser Reihe herausheben.
Der erste Punkt …
… und gleichzeitig der Grund warum ich mich der Lektüre des Blog und auch des Buches zunächst verweigert habe – ist der Hype um Tschick, der ohne den Blog vermutlich so nicht stattgefunden hätte. Zwar war mir der voyeuristische Aspekt, jemandem beim öffentlichen Sterben zuzusehen, so unangenehm wie das reflexartige Hinsehen beim Vorbeifahren an Autobahnkarambolagen. Aber vor allem hat mich die Ausschlachtung des Blogs durch den Verlag zu Marketingzwecken abgestoßen, von denen auch der Autor zunächst nicht wusste.
4.10. 2010 10:19
Bekomme mit, daß der Verlag Bloglink mit Psychiatrisierungseintrag als Werbemittel rumschickt. Wahnsinn. Und nein, das ist nicht mit mir abgesprochen.
So gesehen ist der Blog ein exemplarisches Buchmarktphänomen …
… vergleichbar mit John Greens YouTube-Channel vlogbrothers. Denn unabhängig davon, ob man Tschick nun für einen großartige Jugendroman hält oder nicht, der außerordentliche Erfolg wäre sicher nicht ohne den Blog des todkranken Autors zustande gekommen. Herrndorf hatte ja mit In Plüschgewittern und Diesseits des Van-Allen-Gürtels durchaus schon vorher von der Kritik hochgelobte Bücher geschrieben, die aber vom großen Publikum nicht wahrgenommen wurden. In die breite öffentliche Wahrnehmung ist Herrndorf erst durch seinen Blog gekommen.
Diese Internetphänomene verselbstständigen sich und beeinflussen (Kauf) Entscheidungen, ohne dass es den Zwischen- oder Endkunden bewusst wird. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Leser oder auch nur die Buchhändler Herrndorfs Blog oder John Greens vlogbrothers überhaupt zur Kenntnis nehmen. Da geht es den Lesern und vielen Buchhändlern nicht anders als der netten Praktikantin in Der Teufel trägt Prada, die sich ihre Entscheidung, einen blauen Pullover zu tragen, erklären lassen muss:
Sie gehen einfach an ihren Schrank und greifen sich diesen… plumpen blauen Pullover. Aber was sie nicht wissen ist, dass dieser Pullover nicht einfach blau ist … auch nicht türkis oder Lapis. Er ist nämlich Azur und sie haben nicht den blassesten Schimmer davon, dass Oscar de la Renta 2002 azurblaue Abendkleider entworfen hat… und es ist Yves Saint Laurent gewesen der azurblaue Militärjacken hatte und plötzlich tauchte Azur in den Kollektionen von acht verschiedenen Designern auf. Anschließend sickerte es dann zu den gewöhnlichen Kaufhäusern durch und fand dann sein tragisches Ende in der Freizeitabteilung, aus deren Wühltisch Sie es dann irgendwann gefischt haben.
Genauso landet dann Tschick oder Sand, es sei ihnen ausdrücklich gegönnt, auf den Geschenk- und Nachtischen meiner Bekannten, die sich für außergewöhnlich belesen halten. Und genauso greife ich dann doch irgendwann zu Arbeit und Struktur und komme zu dem zweiten Punkt.
Der zweite Punkt …
… der Arbeit und Struktur heraushebt, und weswegen ich die Lektüre nur empfehlen kann, ist seine literarische Qualität.
Nach der Diagnose lebt er wie kaum ein anderer nach der so oft dahingeplapperten Weisheit, man solle jeden Tag so leben als wäre es der letzte. Angesichts der knappen Zeit, die ihm noch bleibt, stürzt er sich in die Arbeit, schraubt, wie er selbst sagt, zwei Romane zusammen.
13.3.2010 11:00
Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde mit allem fertig. (geweint)
Er arbeitet, weil es ihm dann besser geht, er arbeitet gegen die Verzweiflung an, bekommt mehr geschafft, als im gesunden Zustand. Statt angesichts der kurzen Zeit, die ihm noch bleibt jede Anstrengung sinnlos zu finden, schreibt er gegen die Sinnlosigkeit an. Er haut – seine Worte – mit Tschick und Sand zwei Romane raus, die vorher jahrelang als Skizzen und Fragmente in der Schublade geschlummert haben. Diese Entschlossenheit zieht sich durch das gesamte Buch. Mehrfach reflektiert Herrndorf seine Arbeitsweise im Blog.
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Einmal im Hinblick auf den Stil …
20.11. 2011 10:31
Der einfachste Weg zu gutem Stil: Sich vorher überlegen, was man sagen will. Dann sagt man es einfach, und wenn es einem dann zu einfach erscheint, kann das zwei Gründe haben. Erstens, die Sprache ist nicht aufgeladen genug von ihrem Gegenstand, oder der Gedanke ist so einfach, daß er einen selbst nicht interessiert. In diesem Fall löscht man ihn.
Herrndorf hat also nicht, wie in einem rein privaten Tagebuch einfach alles stehengelassen, was in Wut, Frust, Angst und Verzweiflung auf Papier gebracht wurde. Er hat redigiert, gelöscht, überarbeitet. Er hat seine Gedanken, Gefühle und Empfindungen in erfrischender Klarheit formuliert.
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auf die Vorgehensweise …
20.12. 2011 13:36
Ich erfinde nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich sammle, ich ordne, ich lasse aus. Oft erst im Nachhinein im Überschwang spontaner Selbstdramatisierung erkennbar falsch und ungenau Beschriebenes wird neu beschrieben, Adjektive getauscht, neu Erinnertes ergänzt. Aber nichts erfunden. Das Gefasel von der Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses und der Unzulänglichkeit der Sprache spar ich mir.
Im Gegensatz zu autofiktionalen Texten, wie etwa denen von Saša Stanišić, erfindet und übertreibt er nicht. Er empfindet auch kein Mißtrauen gegenüber der Sprache und ihren Möglichkeiten. Er bemüht sich darum, an der genauen Erinnerung, an die er glaubt, zu bleiben und sie präzise wiederzugeben.
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auf die Struktur …
allein der berufsbedingt ununterdrückbare Impuls, dem Leben wie einem Roman zu Leibe zu rücken, die sich im Akt des Schreibens immer wieder einstellende, das Weiterleben enorm erleichternde, falsche und nur im Text richtige Vorstellung, die Fäden in der Hand zu halten und das seit langem bekannte und im Kopf ständig schon vor- und ausformulierte Ende selbst bestimmen und den tragischen Helden mit wohlgesetzten, naturnotwendigen, fröhlichen Worten in den Abgrund stürzen zu dürfen wie gewohnt –
Es widerstrebt einem fast, den Gestaltungswillen Hermsdorfs zu beschreiben, mit dem er nicht nur den Blog schreibt. Der Blog wird ihm zu einem Roman, den das Leben schreibt und dessen Fäden er in der Hand halten will und hält. Romanstrukturen mit ihren Plotpoints, Höhe- und Tiefpunkten funktionieren ja gerade deshalb, weil sie auch in der Wirklichkeit aufzufinden sind. Die Diagnose, das Aufbäumen durch die Arbeit, der Erfolg von Tschick, die neuerlichen Rezidive, die Unterstützung durch die Freunde, der Rückschlag durch den Unfall, bis zu dem – kann man das, ohne zynisch zu klingen, sagen – Happy End am Hohenzollernkanal. Herrndorf kannte von Anfang an das Ende dieses Romans. Ein Ende, an dem der Protagonist sein Ziel erreicht, die Fäden in der Hand zu behalten.
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