Navid Kermani hat ein dickes Buch geschrieben. Gut 1200 Seiten. Dicht beschriebene Seiten. Mit wenigen bis gar keinen Absätzen. Beim Lesen kein Halt für die Augen. Keine Atempause. Und so rast auch der Text.
Ich schreibe hier über ein Buch, das ich noch nicht zu Ende gelesen habe. Immer wieder blättere ich vor. Zurück, schlage es irgendwo auf, lese weiter, lege es wieder weg. Irgendwann sind sieben Lesezeichen im Buch, um es dann doch wieder irgendwo anders aufzuschlagen.
»Dein Name« ist 2011 bei Hanser erschienen.
In der Ankündigung auf der Hanser-Verlagsseite heißt es:
Am 8. Juni 2006 beginnt Navid Kermani sein neues Buch, und es wird einer der ungewöhnlichsten Romane unserer Zeit. Hier schreibt einer über alles, was es zu wissen gibt über sein Leben und das Leben überhaupt: die Gegenwart und die Vergangenheit seiner Familie, die Erinnerung an gestorbene Freunde und die mitreißende Lektüre Jean Pauls und Hölderlins. Die Geschichte seines Großvaters, der von Nahost nach Deutschland ging, wird zum Herzstück des Romans. Immer wieder drängt sich dem Romancier der entscheidende Moment dazwischen: der des Schreibens. „Dein Name“ ist ein Roman, der das Privateste ebenso in den Blick nimmt wie die Geschichte, in der wir leben – ein Buch, das unser Bild der Gegenwart nachhaltig verändern wird.
Navid Kermani nutzt alle autofiktionalen Stilmittel, die uns in dieser Blogreihe wiederholt begegnet sind.
Vermeintliche Detail- und Faktentreue
Das Buch beginnt mit einer präzisen Zeitangabe. Es ist nicht nur Donnerstag, der 8. Juni 2006, wie es im Klappentext heißt, sondern es ist 11:17, obwohl der Laptop, dessen Uhr nicht richtig eingestellt ist, 11:23 anzeigt. Während der Satz geschrieben wird wird es 11:18. Schreiben und mit einem Auge auf die Uhr sehen also? Die nächste Zeitangabe folgt auf der nächsten Seite. Es sind 7 Minuten vergangen. Der Laptop zeigt jetzt 11:31. Offensichtlich hat der Autor in dem Buch in den sieben Minuten gut eine Seite geschrieben. Schreiben in Echtzeit also. Oder vielleicht nur eine Methode, durch Detailgenauigkeit das Unwahrscheinliche glaubwürdig zu machen. In diesem Falle eher, dem scheinbar Uninteressanten, Nebensächlichen Bedeutung zu verleihen.
Auf der ersten Seite erfährt die Leserin nicht nur, dass der Laptop eine falsche Uhrzeit zeigt, sondern auch dass der Schreiner, der die Schreibtischplatte angefertigt hat, 78 Jahre alt ist. So alt wie Navid Kermanis Vater. Verleiht das der Schreibtischplatte eine Bedeutung?
Alles auf einmal
Die Leserin erfährt nämlich darüber hinaus (immer noch auf der ersten Seite),
- dass die Schreibtischplatte auf zwei Böcken steht, die der Schreiner freundlicherweise mitgebracht hat
- dass Kermani in einer halben Stunde im Rundfunk sprechen wird
- worum es in dieser Rundfunkreihe geht
- dass er durch das Wiederholen seiner Erklärungen, dazu verleitet wird, sie selbst zu glauben
- dass die gerade vom Vater reparierte Waschmaschine läuft,
- aber nicht sicher ist, ob sie doch noch tropft
- dass zwar die Sonne auf die Blumentöpfe scheint,
- Kermani dennoch an den Füßen friert,
- weil er keine Socken anhat
- dass sein alter Schreibtischstuhl die Balkontür aufhält
- dass er diesen Schreibtischstuhl ramponiert in der Studentenzeit auf dem Trödel gekauft hat
- dass er das einzige Möbelstück ist, das ihn in alle Arbeitszimmer begleitet hat
- dass er aber jetzt wegen chronischer Rückenschmerzen einen Gesundheitsstuhl benutzt
- dass die Rückenschmerzen durch einen Nerv rechts neben dem Brustwirbel verursacht werden
- wir erfahren nicht, welcher Brustwirbel das ist
- es geht weiter damit, dass ein Regal geliefert werden soll
- dass die Frau an der Achillessehne operiert wurde
- dass Kermani sie zum Arzt fahren wird
- dass er eine Tochter hat,
- die er von der Schule abholen wird
- dass er danach ins Museum gehen möchte
- weil er für ein Benefizbuch über ein Gemälde nachdenken soll
- dass er in der nächsten Saison einen literarische Salon moderieren wird
- dass am nächsten Nachmittag das Eröffnungsspiel der Fußball-WM stattfindet
- dass er sich vorher, um Organisatorisches zu besprechen, mit der schönen Direktrice treffen wird und
- wüßte er bereits, daß er einen Roman schreibt, würde er an dieser Stelle ein Affäre erfinden …
Der Autor beim Schreiben
Es ist nicht das erste Mal, dass in einem autofiktionalen Buch, das Schreiben des Buchs selbst thematisiert wird. Wobei die Zeitachse immer wieder verschoben wird. So werden etwa Rezensionen oder andere Reaktionen auf das Buch als Metatexte aus sozialen Netzwerken, Briefen etc. in das Buch geschrieben, an dem der Autor gerade noch schreibt. Zeichen werden gezählt, von Einwänden des Lektors ist die Rede und Mails bezüglich der Korrekturfahnen erwähnt.
Auf Seite 1229 endet Navid Kermani mit dem Satz:
Die Setzerin erinnert daran, daß jeder Absatzwechsel umgerechnet sechzig Anschläge kostet.
Der Autor als Autor
Wie in zahlreichen autofiktionalen Büchern schreibt hier ein Autor über einen Autoren. Und wieder einmal hat der Romanautor den gleichen Namen wie die Romanfigur »Autor«. Navid Kermani schreibt über einen Menschen, der unter anderem Schriftsteller ist, und der Navid Kermani heißt. Er schreibt in der dritten Person über diesen Navid Kermani. Hin und wieder taucht allerdings auch der reale Autor Navid Kermani auf. In der ersten Person. Dann reflektiert dieser Schriftsteller Kermani als Ich über den Kermani, der gerade in dem Buch das Buch schreibt. Schwindelig?
Kurz gesagt möchte der Mann, um Navid Kermani am Samstag, dem 17. Juni 2006, einmal so zu nennen, wenn ich nicht immer vom Romanschreiber sprechen will, kurz gesagt möchte der Mann um 22:08 Uhr, da er wegen des Ausscheidens Irans bei der Weltmeisterschaft ein paar Grade zusätzlich geknickt ist, mit seiner Ehe aufhören.
Die Verzahnung von persönlichem Befinden, familiärer Geschichte, Literatur, Kunst und Weltgeschehen oder eben Fussball ist auch ein durchaus gängiges autofiktionales Stilmittel. Kermani macht aber noch viel mehr.
Die Abbildung der Welt in einem Strom von Worten
Nichts wird weggeworfen, nichts überspielt, die erste Aufnahme genommen, eine littérature veritée. Am liebsten würde er auch die Tippfehler bewahren. Wenn ihm ein Abschnitt nicht gefällt, streicht er ihn nicht, sondern schreibt im nächsten Absatz, dass der vorige ihm nicht gefallen hat. Nichts geht verloren, alles ist wert, aufbewahrt zu werden, alles von gleichem Gewicht, das Heilige und die Waschmaschine.
Es gibt keine Kapitel, kaum Abschnitte. Alles strömt an die Oberfläche unstrukturiert, oder dermaßen brillant geordnet, dass die Ordnung nicht mehr zu finden ist. Lediglich die großartigen, sehr dichten Nachrufe auf die Toten Kermanis sind durch Porträtfotos der Verstorbenen und den Wechsel der Schriftart herausgehoben. Sie sind in der serifenlosen Scala Sans gesetzt, die schon typografisch einen sachlicheren Modus anschlägt als die Adobe Caslon Pro des Textes.
Der Umschlag
Auch der sehr gelungene Umschlag des Hanser Chefgrafikers Peter-Andreas Hassiepen ist typografisch gehalten. Er zeigt Text in zwei sich überlagernden Schriftarten, die aus dem violetten Hintergrund aufzusteigen scheinen. Auf dem Cover prangt ein orangener Kreis, in dem der Autorenname, der Buchtitel und der Verlag angegeben sind. Gleichmäßig groß, sozusagen gleichwertig, nur durch leichte Farbnuancen unterschieden. Der Titel in sattem schwarz, der Name des Autors und der Verlag, jeweils etwas transparenter. Außer dem »i« sind alle Buchstaben in Versalien, aber in sieben (oder mehr) sehr unterschiedlichen Schriftarten gesetzt. Warum erzähle ich das alles?
Weil die Behandlung der Typographie auf dem Umschlag dem Inhalt wunderbar entspricht. Kermani behandelt die unterschiedlichsten Dinge, Ereignisse gleichmäßig, gleichwertig in einem ständigen Gedankenstrom oder Redeschwall, der ungefiltert aus dem Bewusstsein aufzutauchen scheint.
Wo bleibt Neil Young
Navid Kermani hat ein Buch zum Herumblättern geschrieben, oder von seinem Romanautor Navid Kermani schreiben lassen. Sowenig wie die Erzählstränge des Buches geordnet sind, sowenig werde ich das Buch von vorne nach hinten lesen. Ich werde weiter in dem Buch blättern, es immer wieder aufschlagen und vermutlich immer wieder erstaunlich intensive Stellen lesen. Zumindest solange bis ich Kermanis Gedanken zu unserem gemeinsamen Helden Neil Young gefunden habe.
Oder besorge ich mir gleich seinen Titel: Das Buch der von Neil Young Getöteten, Suhrkamp 2013?
11 Comments