Der Schlüssel
Manchmal stehen wir im Leben vor einer verschlossenen Tür. Wir können Leben hören, dahinter, Stimmen, die uns rufen, Schätze, die im Dunkeln liegen. Wasserrauschen, Vogelsingen, Kinderlachen. Wir ahnen den Duft von Freiheit, der hinter ihr weht. Das Bild ist eingebrannt, leuchtet hinter der Stirn. Ein neuer Weg. Ein unbekannter Raum. Geheimnisse, die gelüftet werden. Streichen mit der Hand über das kühle Holz, den glatten Stein. Drücken unsere heiße Wange an. Mach auf. Lass mich. Ein.
Wenn wir nur den Schlüssel finden.
Ein Schlüssel, das kann ein geschmiedeter Schlüssel, ein Code, eine EC-Karte sein. Eine gebogene Haarnadel, ein geflüstertes Gebet. Immer hat er zwei Funktionen: zu öffnen und zu schließen.
Einer, der mit rasselndem Schlüsselbund durch die Steinflure schreitet, trägt Verantwortung. Möglichkeiten. Macht. Er kann sehen, was anderen verschlossen bleibt. Wer zu welchen Räumen Zugang hat, war schon früh ein Unterscheidungsmerkmal. Die Schlüssel, die du trägst, zeigen anderen, über welche Schlösser du verfügen kannst.
Schlüssel öffnen Schlösser
Was mit einem Schloss verschlossen wird, ist für den Besitzer von besonderer Bedeutung. Wertvoll genug, um es nicht jedem hinzureichen. Im Schloss verborgen ist ein Mechanismus, der alles zum Leben erweckt. Etwas in Bewegung bringt. Scharniere knirschen, Zähne klacken, Lampen blinken grün. Am Tresor-Rad zu drehen, wie am Rad eines Radios. Sich auf die richtige Frequenz einstellen. Alles auf Empfang.
Manchmal tun wir so, als ob es keine Schlösser gäbe. Als wäre das Leben eine weite Ebene, und wir, die Arme ausgestreckt, ein fliegendes Hemd im Sommerwind. Ich kann gehen wohin ich will, ich kann sehen, so weit ich will. Ich bin frei, froh und unbeschwert. Ein freies Radikal, ein Reh, das durch den Wald springt, ein Regenbogen im Sprühnebel des Rasensprengers – und dann stößt du deinen Zeh an einer Box. Und auf einmal gibt es Geheimnis. Ein Rätsel, das gelöst werden will.
Schlösser verschließen Truhen, Tagebücher, Briefkästen, Medizinschränke.
Und besonders oft verschließen sie Türen.
Ob du in ein Zelt hineinschlüpfst, in einen Klassenraum schlitterst, eine Bibliothek, Schwimmbad oder Versammlungsraum betrittst. Du öffnest immer eine Tür. Die den alten Raum vom Neuen trennt. Es gibt Falltüren, Kellertüren, Schlafzimmertüren, Drehtüren, Glastüren. Aber sie alle signalisieren: Hier hört eine Sache auf und fängt die andere Sache an.
In uns gibt es Türen. Einige, die fest verschlossen bleiben, andere, die unbemerkt im Wind schwingen. Achtlos aufgesogen von einem warmen Windzug. Durch manche gehen wir jeden Tag. Die Tür vom Schlaf zum Wachzustand ist unser vertrautestes Portal. So bekannt, das wir es kaum bemerken. Manchmal liegt die Klinke schwerer in der Hand, und die Muskeln im Arm brennen, beim Aufziehen. Manchmal fällt sie zu, bevor wir hindurch sind und wir müssen sie noch einmal öffnen. Aber hindurchgehen können wir immer. Wir wissen und vertrauen darauf. Der Schlüssel zum Erwachen liegt in unserer Hand.
Es gibt Türen, die du erst bemerkst, wenn in der Dunkelheit deines Herzen eine Angel quietscht. Du versuchst, dich umzusehen, herauszufinden, woher der Luftzug kommt. Doch schon fällt sie leise, verdächtig leise, in ein gut geöltes Schloss. Du stehst im Schwarz. Hörst deinen Atem keuchen. Das Herz wummert im hohlen Korb. Nur die Hand ausstrecken und die altbekannte Klinke spüren. Ich kann gehen, wohin ich will. Zurück. Wieder zurück. Wieder zurück. Deine Hände tasten. Eben war sie noch da. Die Tür, die zu bekannten Wiesen führt. Wo ein Pony freundlich schnaubt und du den Kopf an seinen warmen Hals legen kannst. Irgendwo muss sie sein, die Tür, die zu deinem alten Selbstbewusstsein führt. Sonnenschein, der in den Haaren tanzt. Die ganze Welt umarmen, murmelst du leise. Wo ist sie. Hinter dir hörst du erneut das Quietschen.
Ein Schlüssel ist eine Frage
Untrennbar mit dem Schlüssel verbunden, ist die Vorstellung, dass es für jede Frage, die richtige Antwort gibt. So sanft, wie ein Schlüssel ins passende Schloss gleitet, soll das Leben auf uns antworten. Uns mit einem geschmeidigen Klicken willig in die nächste Welt einlassen.
Was steht dahinter? Was kann ich nicht sehen?
Wo wir ständig nach Antworten suchen, ist es doch eigentlich die richtige Frage, die Türen öffnet und Wege gangbar macht. Wie oft hast du schon dagesessen und dir das Hirn zermartert, auf der Suche nach der Antwort auf eine Frage, die gerade mal gut genug für ein lässiges Achselzucken ist. Und das ist alles, was du bekommst. Das Leben blickt kurz auf, hast du was gesagt? Und guckt dann wieder aus dem Fenster. Du bist nicht ehrlich. wispert eine Stimme in dir. Du bist nicht … mutig genug. Du fragst nicht richtig, weil du die Antwort nicht hören willst.
Wer spricht da? Na das ist doch wenigstens Mal ein Anfang…
Blaubart
Blaubart lässt seine junge Frau mit seinem Schlüsselbund allein. Alle Türen darf sie öffnen, nur die eine nicht. Versuche doch, heraus zu finden, zu welcher Tür der Schlüssel passt, flüstern ihre Schwestern. Vielleicht zieht sie kichernd die Schultern hoch. Deine Haare kitzeln mich. Die Schwester wechseln Blicke. Warum versuchst du nicht, es heraus zu finden. Wir können ein Spiel daraus machen, nehmen sie bei der warmen Hand, Röcke wirbeln, ein Pantöffelchen fliegt vom Fuß. Und dann wird mit heißen Wangen getestet. Vorratsschränke und Gästezimmer, Ein Raum mit Büchern, ein Raum mit Rüstungen, ein Schrank, eine Truhe, ein Hinterzimmer. Langsam aber sicher schlägt das Herz tiefer, singt schon einen Ton, bevor sie ihn hören kann. Am Rand der Kellertreppe hält sie noch die Hand der Schwester. Nur eine Wand und keine Tür mehr. Bis ein Geräusch durch kühle Luft zieht. Klapp. Noch eine. Fest verschlossen. Versuch den kleinsten Schlüssel.
Vielleicht führt sie zu einem Garten, vielleicht führt sie zu einem Raum aus Gold, zu einer weichen Höhle mit bunten Kissen, einem Lesezimmer…die Fantasien ein letzter Fliederhauch in der Kellerluft. Bis die Tür sich öffnet.
Schlüssel hüten Entscheidungen.
Willst du wirklich hindurchgehen. Bist du bereit dafür? Wer die richtige Frage stellt, muss auch bereit sein, die Antwort zu hören. Und wer eine Tür öffnet, muss bereit sein, zu sehen, was sich dahinter verbirgt.
Gibt es Türen, die du für immer verschließen willst? Ein Schlüssel, in einer Truhe, in einer Plastiktüte, in einem alten Sack, mit Klebeband umwickelt. Erinnerungen, die unter der Erde, Unterwasser bleiben, oder noch besser, gleich durch den Erdkern ins Universum fallen und in ein schwarzes Loch gesogen werden sollen. Rasselnde Ketten um Gedanken, die im Kellerloch deines Bewusstseins rotten. Den Schlüssel in einen Brunnen geworfen, wo er von einem Goldfisch verschluckt wird. So lange es einen Schlüssel gibt, ist keine Tür für immer verschlossen.
In Geschichten können Schlüssel einen Träger auszeichnen. Sie können Kommunikationsmittel sein, Anerkennung, Talismane. Sie können bluten, fliegen und Besitzer wechseln.
Schlüssel fordern Aktivität.
Da sind Schlösser, um die du herumschleichst, wie eine Katze um den heißen Brei. Ein bisschen am Scharnier lecken, ein kleines bisschen mit der Pfote daran spielen. Die Krallen ausfahren und das Schloss anfauchen. Aber nie den kleinen Schlüssel nehmen, der über deinem Kopf schwebt. Nie mit zitternden Fingern und klopfendem Herzen die Lippen öffnen und das Zauberwort sagen. Ja.
Ein Schloss öffnet sich nicht von selbst. Nach dem richtigen Schlüssel zu suchen und den Mut haben, ihn zu benutzen, fordert Entscheidungskraft und Willen. Ein Schloss zu öffnen heißt, sich für neue Erfahrungen und Erkenntnisse zu öffnen.
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