Das magische Objekt - Dinge in Geschichten

#05 – Der Spiegel

3. Juni 2020
Das magische Objekt - Dinge in Geschichten #5 Der Spiegel

 

Das magische Objekt - Dinge in Geschichten #5 - Der Spiegel

„Sag Spiegelbild, was ist aus mir geworden. Ich bin nicht, was ich früher war. Vielleicht sollte ich fort. Weit fort, wo mich keiner kennt. Weißt du, was gut sein mag, für mich?“

In meinem Lieblingsfilm als Kind, gab es eine Szene, in der eine Prinzessin, am Ende ihres Lateins und am Tiefpunkt der Story, auf einem Brunnenrand hockt und sich selbst in der dunklen Wasseroberfläche betrachtet.

Ich höre noch immer ihre leisen Fragen, sehe ihr verschwommenes Profil. Jede neue Welle lässt ihr Gesicht anders erscheinen. Mal maskenhaft verzerrt, dann wieder klaräugig, glatt. Ihr Spiegelbild bleibt stumm, während ihre Gedanken unablässig kreisen.

Was ist ein Spiegel?

Ein Spiegel ist eine metallbeschichtete Glasscheibe. Sonne, die aufs Wasser fällt, ein Teich von unbekannter Tiefe. Ein Fenster mit heruntergelassener Jalousie.

Einige Spiegel zeigen uns von Kopf bis Fuß, andere zwingen uns, einen Ausschnitt zu wählen. Manche Spiegel zeigen die Vergangenheit, die Zukunft, oder eine Fantasie. Aber sie geben immer Perspektive. Auf denjenigen, der sich im Spiegel betrachtet.

Mit sich selbst zu zweit zu sein.

Man kann an sich herunter und um sich herum sehen. Hände ausstrecken, Finger zählen. Füße heben, Fußsohlen ansehen. Schielen, gerade so die Nasenspitze in den Blick kriegen. Kannst du deine Lippen sehen? Oder deine Schulterblätter?

Wo man vorher noch allein im Badezimmer stand, ist jetzt ein anderer da. Sieht dich von der anderen Seite des Spiegels an. Sich selbst in die Augen zu sehen, bedeutet, daran zu glauben, das man nicht nur hier, in dieser Welt, existieren kann, sondern auch dort, im Spiegel. In einer Dimension, abseits von unserer sonstigen, sichtlosen Selbstwahrnehmung. Im Spiegel sitzt ein Ich Bewusstsein.

In vielen Geschichten besitzt der Spiegel eigenes Wissen und eine eigene Weisheit. Die Königin aus Schneewittchen fragt, wer ist die Schönste im ganzen Land. Der Spiegel liefert ihr die Antwort. Doch sagt er ihr damit nicht etwas, dass sie selbst schon wusste?

Der Spiegel ist eine Ebene, zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Was liegt hinter dem reflektierenden Glas, unter der Wasseroberfläche. Was blendet und verblendet uns? Wir rufen die Kräfte des Unbewussten, um uns zur Seite zu stehen. Ahnen, dass eine Antwort in uns liegt, wenn wir bereit sind, hinzusehen.

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land.

Vor dem aus dem Haus gehen, noch einen Blick in den Spiegel werfen. Nach einem Streit, sich selbst in die rotumrandeten Augen blicken. In den Spiegel sehen, wenn man sich gut fühlt. Schlecht fühlt. Gar nicht fühlt.

Wer ist diese Person, die sich ständig vergewissern muss. Bin ich noch da? Bin ich noch so, wie ich gestern war? Ein Mensch, der stetig nach dem nächsten Spiegel hascht, hat Angst, sich selbst nicht zu erkennen. Formlos in der Welt zu schweben. Bis zur nächsten Reflexion. Da bin ich ja. Alles ist gut. Und schon im nächsten Augenblick verengen sich die Lider, wird glatt der Körper abgescannt.

Ein Spiegel birgt die Gefahr, zum Beobachter seiner eigenen Existenz zu werden. Inhaltsloses Haschen nach einer falschen Lebendigkeit. Sich im eigenen Spiegelbild zu verbeissen, heißt, das Leben loszulassen. Alle Sinne durchs Auge zu pressen. Um sich im See spiegeln zu können, darf man nicht ins Wasser springen, die Lippen anlegen, trinken. Eine Hand hinein tauchen. Schon kräuselt sich die Oberfläche, Licht springt einem entgegen und das klare Bild ist weg. Der Mensch, den man eben noch sehen konnte, ist verschwunden.

Ein Spiegel kann uns uneins machen.

Einen Spiegel zu zerschlagen, heißt, das empfindliche Gleichgewicht der Reflexion zu stören. Wo vorher noch ein ganzer Mensch im Spiegel stand, sind es jetzt nur noch bruchstückhafte Eindrücke. Ein Auge, ein Mundwinkel, die Schulter, ein Fuß. Der Mensch im Spiegel ist zerschlagen und so auch die Möglichkeit, sich „ganz“ wahrzunehmen.

In Geschichten rammen Protagonisten oft die Faust in den Spiegel, wenn sie sich selbst vergessen wollen. Zurück zum Zustand des bewusstlosen Erlebens. Sein anstatt sehen. Ein Spiegel kann uns uneins machen. Denn: Wo ein Spiegel ist, sind immer zwei.

Die Spiegelwelt.

Im Storytelling gibt es den Begriff der „Upside Down“, der verkehrten Welt. Nachdem im ersten Akt die Welt des Helden im Normalzustand gezeigt wird, findet er sich im zweiten Akt in der Upside Down wieder. Einer Welt, die alles ins Gegenteil verkehrt. Die dem Status Quo gegenübersteht und widerspricht.  Hier finden sich häufig „Doppelgänger“ von zuvor eingeführten Figuren. Wo im ersten Akt eine missmutige Tante an der Seite des Helden stand, trifft er jetzt eine enthusiastische Lehrerin. Diese Spiegelbilder helfen uns, Vergleiche anzustellen. Etwas zu spiegeln, das kann bedeuten, es von einer anderen Seite zu betrachten. In Geschichten sind Spiegel manchmal Portale, die Einsichten in andere Welten geben.

Realität hängt von der Perspektive ab.

Ein Spiegel dient zur Reflexion. Deshalb taucht er in Szenen und Geschichten auf, in denen die Heldin sich selbst gegenüberstehen will. In Mary Poppins singt ihr Spiegel fröhlich weiter, als sie schon längst den Mund geschlossen hat. Und feiert verschmitzt die Eitelkeit seines Ebenbilds.

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