Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.
Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.
#13 Ein Unfall
— Spätherbst 1984
Krankheiten und Unfälle weisen mich oft auf schmerzhafte, peinliche und manchmal auch demütigende Art auf eine geistige, energetische Schieflage hin und bewahren mich vor Schlimmeren.
Der Motorradunfall.
Im Vorbeifahren sehe ich den Punk in der Adalbertstraße. Wie er da sitzt, halb liegt, an die Wand gelehnt auf dem Bürgersteig, die Arme auf die Ellenbogen gestützt. Ein Bein ausgestreckt, ein Bein angewinkelt. Cool und locker. Aber was liegt da neben ihm? Eine Krücke?
Sieht aus wie eine meiner Skulpturen, die ich noch in Düsseldorf gemacht habe. Punks vor dem Ratinger Hof.
Im Atelier biege ich Draht zu einer liegenden Figur. Die Arme auf die Ellenbogen gestützt. Ein Bein ausgestreckt, ein Bein angewinkelt. Ich erhitze den Teer, Bitumen, Elefantenhaut. Spachtele und gieße den zähflüssigen Teer auf den Draht. Teer ist genau das richtige Material für die Besetzerszene. Liegende. Stehende, Sitzende, rumlungernde Punks. Auf Beton. Abgeranztes Leder. Kommt sofort rüber, bei Teer. Bei Skulpturen aus Teer.
Aber das hier wird anders, will nicht so. Will in eine andere Form. Entweder ist der Teer zu dick oder der Draht zu weich. Er sinkt ein, die Figur biegt sich zur Seite. Das Material hat seine eigenen Vorstellungen. Nicht mehr cool und locker, sieht es jetzt mehr aus wie Napalmopfer. Ist es aber nicht.
Das bin ich. Diese Figur auf dem Stück alter Holzbohle bin ich. Von innen gefühlt. Gekrümmt. In Embryohaltung. Verschmolzen mit dem rauen Brett, unmöglich wieder aufzustehen.
Ich liege am Boden. Kopfhörer. So laut, dass alles andere still ist. So laut, dass endlich Ruhe ist. Solange bis ich wieder aufstehen kann.
Alles offen. Einschlafen, oder aufstehen. Malen, in den Küchenbereich gehen, was essen oder nicht, sehen, wer da ist oder rausgehen …
Niemand kann mir einreden, dass das ein Zeichen von schlecht drauf sein ist. Ich bin nicht schlecht drauf, weil ich Musik höre. Ich will nur meine Ruhe haben. Nur entspannen mit den Ohren in den Kopfhörern, mit der Musik so laut, dass sie den ganzen Schädel ausfüllt und kein Platz für anderes ist.
Aber ich stehe unter Beobachtung. Beobachte mich. Mißtrauisch. Ich muss aufpassen, mich davon freimachen, dazu stehen. Ich will hier liegen. Will mir nicht einreden, dass ich übel drauf bin, dass es mit schlecht geht. Weil ich Musik höre, hier liegen will, in Ruhe und tot sein.
Weil ich mich nicht entscheiden kann, weil ich es nicht sehen will, was Albert bei seinem einzigen Besuch in der Etage auf den Punkt bringt.
— Das ist kein Atelier, das ist ein Flüchtlingslager. Du musst dich entscheiden, ob du Künstler sein willst oder Sozialarbeiter.
Nein Albert, du hast keine Ahnung. Das ist vielleicht mehr Kunst als du in deinem ganzen Leben zusammenpinseln wirst in deinem geheizten Atelier. So viele Menschen in einer offenen Etage, fast ohne Privatsphäre. Zu sehen, wie sie sich unter extremen Bedingungen verhalten, wie Gruppen, wie Menschen in Gruppen funktionieren. Ich gebe hier nicht auf.
Spätnachmittag, es ist schon dunkel. Kalter Nieselregen. Ich komme mit der XT vom Kinderladen. Die Sturmhaube nass, Tropfen auf der Motorradbrille. Aber im Kopf unter dem Helm ist alles voll mit dem Streit gerade. Ich weiß, dass K. recht hat.
— Eine Gruppe kann nicht so viele Hänger mit durchziehen. Wer macht denn hier was? Wer hat denn die Wasserleitungen verlegt? Ach was verlegt, wer hat sie denn überhaupt bezahlt? Das warst du doch. Dafür vertändelst du deine Zeit im Kinderladen? Damit du alles in diese Etage steckst? Und wer hat die ganzen Lampen organisiert. Das warst du doch auch. Und die Kabel.
— Ja, aber Klaus hat auch …
— Ja, Klaus und wer noch? Jörg ist erstmal nach Malle geflogen, hallo nach Malle, während hier …
— Ja, aber du warst doch auch verreist.
— Nachdem ich den Industrieofen besorgt hatte. Den Ofen, den die jetzt geschrottet haben. Diese Idioten. Ich hatte allen gesagt, keine Kohlen. Aber nein. Ich kann das nicht mehr und vor allem ich will das nicht mehr.
Der Nieselregen weicht allmählich die Schuhe auf. Freue mich auf einen Milchkaffee und den Kuchen im Megot.
Am Anhalter Bahnhof biege ich links ab. Eine rechtwinklige Kurve. Ecke Anhalter- und Wilhelmstraße. Eine schöne Kurve, tief runter mit der Maschine. Es gibt nicht viele Kurven in Berlin, die man so schnell fahren kann. Ich sehe von rechts ein Auto kommen. Ich habe Vorfahrt. Abknickende Vorfahrt. Wird er anhalten? Sieht nicht so aus. Werde ich auf meine Vorfahrt verzichten, bremsen, den Wagen durchlassen. Sieht auch nicht so aus? Er wird schon bremsen, er wird schon anhalten, er kann nicht so blöde sein, er wird nicht einfach durchfahren, er wird bremsen. Nein! Tut er nicht. Das passiert natürlich alles in Bruchteilen von Bruchteilen … von Bruchteilen, bevor mein Fuß von seiner Stoßstange gegen mein Motorrad gequetscht wird.
Ich stehe schon wieder, bevor der Typ ausgestiegen ist. Auf einem Bein. Halte das Moped, es hat nicht abbekommen. Der Motor läuft noch. Zum ersten Mal – das fällt mir sogar auf – nutze ich den Notstopp Schalter. Jetzt ist alles in Zeitlupe. Mein Fuß hat den Aufprall abgefangen. Dazu sind Füße nicht gemacht, vor allem nicht, wenn sie in aufgeweichten Chucks statt in Motorradstiefeln stecken.
Der Typ steigt aus, völlig geschockt. Und hat eine Fahne. Es dauert, bis ich ihm klarmachen kann, wie man eine XT auf den Ständer stellt. Ich habe ja gerade nur ein Bein zur Verfügung. Und nein, ich werde nicht die Bullen holen. Ja, er weiß, dass er schuld hat. Und nein, ich will den Schuh nicht ausziehen, aus dem das Blut läuft. Und ja, wir werden uns schon einigen. Und nein, ich will nicht sehen, was da drin mit dem Fuß los ist. Ich will jetzt erstmal nicht in Ohnmacht fallen. Und ja, er soll mich ins Krankenhaus fahren. Er fährt mich ins Krankenhaus.
Was war das? Ich hätte bremsen können. Ziemlich sicher. Jetzt laufe ich ein paar Wochen an Krücken.
Hatte meine eigenen Skulpturen nicht verstanden. Nicht gesehen, wie verwundet ich schon lange bin. Jetzt bin ich es auch äußerlich. Für alle sichtbar. Sogar für mich. Verletzt, langsam, schwach, hilfsbedürftig, auf Krücken. Glück gehabt. Danke.
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