Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.
Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.
#22 Hängebank
— 1979
Auf dem Radiowecker. Rot. 4:23. In die Klamotten, zurechtgelegt schon am Abend vorher. Brote schmieren, Salami. Wieviele? Werde ich überhaupt Hunger haben?
Dann bin ich schon auf dem Fahrrad. Unser Haus steht gut achtzig Meter über der Stadt. Beinahe die höchste Erhebung in der Umgebung. Es geht also fast nur bergab. Es wird ein heißer Tag, das spüre ich sogar in der nachtdunklen Fahrtwindkälte. Bei den wenigen Steigungen, den Bergabschwung nutzend, verliere ich kaum Tempo, der Dynamo singt. Ich brauche keine zwanzig Minuten für die Strecke. Trotzdem steht Rainer schon neben Schneewittchen, seinem weiß-wie-Schnee, rot-wie-Blut, schwarz-wie-Ebenholz Karman Ghia. Wartet.
Er war schon in den letzten Semesterferien unten. Er kennt sich aus, er kennt den Weg. Über die Autobahn mindestens vierzig Minuten nach Derne, zum Parkplatz an Schacht IV. Verständlich, dass er mich nicht mit dem Auto abholt, ein Umweg. In der Herrgottsfrühe zählt jede Minute.
Ich bin das erste Mal durchgeschwitzt. Erstaunlich viel Verkehr um diese Zeit. Kreuz Dortmund-Nordost, dann schon die Ausfahrt, die Sonne geht auf und mir wird schlecht. Die Sonne. Nochmal die Sonne sehen. Komm, jetzt mach dir nicht in die Hose. Du wolltest immer da runter. Wissen, wovon sie reden. Rainer biegt noch ein paar mal ab. Eine Zechensiedlung. Dann Schotter. Der Parkplatz. Schon da? Er sucht die richtige Kompromissparklücke, zwischen jetzt nicht mehr weit zum Schacht laufen und heute Nachmittag schnell vom Hof kommen. Dann parkt er Schneewittchen rückwärts ein und gegen die gleißende Sonne steht das grüne Stahlgerüst blass vor mir. Der berühmte Doppelbockturm, breitbeinig mit seinen vier Seilscheiben. Bis jetzt immer nur von der Autobahn aus bewundert. Im Vorbeifahren.
Über den Schotter treiben wir mit anderen Kumpels, als ginge es zu einem Kreisligaspiel. Fließen mit ihnen zu dem Backsteinbau zwischen den Beinen des Turms. Eine Glastür. Ein paar Stufen. Ein Kumpel hinter einer Scheibe am Schalter: »Meldet euch bei … der nimmt euch mit runter.«
Bei wem? Aber da kommt er schon. Ich habe schon auf dem Parkplatz gelernt: es heißt nicht »Glückauf«, sondern einfach nur »’auf«. Vermutlich ohne den Apostroph.
Zur Klamottenausgabe. Meine Größe sieht der Kumpel hinter dem Tresen auf einen Blick, Schuhgröße will er wissen. Er schreibt mit rotem Edding die Markennummer in Jacke, Hose, Hemd, Unterwäsche, Socken, Halstuch. Stolz, dass er die Nummern vorwärts, rückwärts und auf dem Kopf schreiben kann. Meine ist 2408. Ambers Geburtstag, aber das wissen wir ja beide nicht. »Brauchse n Gehörschutz?« Brauche ich einen? »Kommse noch ma widda.«
Wie soll ich das alles … ach so, es gibt noch einen Beutel, für des ganze Zeugs, natürlich auch mit der Nummer. Jetzt noch Schuhe, Schienbeinschoner, Lampenriemen, Teekanister, schöne grüne Badelatschen, Handtuch und natürlich den Helm. Okay, ob ich ihnen das alles in den paar Monaten hier wieder reinverdiene?
Die Kaue ist leer, klar, die anderen sind längst unten und die Nachtschicht schon raus.
Ich finde die Kette mit meiner Markennummer, lasse den Korb runter. Schuhe und Kleinzeug in den Korb, Klamotten kommen an die Haken am Korb. »Und pass auf, dass da nix rausfällt, nem Kumpel auf’n Kopp womöglich«
Nackt. Ich bin nackt. Hab mich noch nie so nackt gefühlt. Rosa und nackt husche ich durch den Duschraum in die Schwarzkaue. Ein frischgeborenes Mäusebaby mit grünen Badelatschen der Ruhrkohle AG. Handtuch umgewickelt. Okay, nein, ich seh schon, über die Schulter geworfen.
An den Duschen vorbei, die Duschen sind die Schwelle, das Tor zur Hölle. Nein nicht zur Hölle, obwohl sich das so schön reimt. Aber das Tor in eine andere Welt. Hinter den Duschen ist Zeche.
Eine Schwelle nach der anderen. Stechuhr, Teestation, Lampenbude. Akku und Selbstretter an den Gürtel gehängt. Müsste ich nicht wissen, wie so ein Selbstretter funktioniert. Wird dir schon einer erklären, wenn’s soweit ist.
Es ist soweit. Ich stehe tatsächlich auf dem Förderturm. Wirklich. Auf einem dieser Stahlgerüste. Auf einem echten Förderturm also. Auf einem dieser schwarzen oder sonstwie Rauten, die im Schulatlas anzeigen: Hier ist Ruhrgebiet. Hier ist wo, alles so dicht ist mit Zechen, Eisenhütten und Stahlwerken, dass die roten Dreiecke, die gelben, schwarzen, blauen oder was für farbige Symbole übereinander gedruckt sind auf der Karte.
Noch ein paar Stufen die Stahltreppe hoch zur Hängebank. Weiß ich, dass das Podest, von dem wir in die Förderkörbe steigen so heißt? Ja, weiß ich. Von Geburtstagstischen im Orienta- und Zigarillorauch, wo nach der ersten Flasche Klarem Dönnekes erzählt werden. Erst aus dem Pütt, dann vom Du hast genug, geh nach oben Partisanenkampf.
Was ich nicht weiß ist, dass der Wind nach Zeche riecht, hier oben. Wie? Nach Zeche eben. Feucht, kalt und metallisch auf den Zähnen. Kann ich etwa den Schacht riechen, die Tiefe, das Loch da unten?
Zwei Gitter werden zur Seite geschoben, wir fahren ein.
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