Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.
Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.
#28 Kurl
— Immer wieder
Hüseyin stößt mich an. Schicht. Wir sind mal wieder so weit von unserem Schacht entfernt, dass es schneller ist durch Schacht Kurl auszufahren. Von da wird uns dann ein Zechenbus zurück nach Derne shutteln. Halbe Stunde über die Autobahn.
Wir laufen schon eine Weile, die ersten einfahrenden Kumpel kommen uns entgegen. Glückauf. Aber statt immer weiter und höher wird die Strecke immer niedriger, enger schmaler, dunkler.
Wir müssen gleich da sein. Ich höre es schon. Ding ding ding ding— ding ding. Viermal für Seilfahrt, zweimal für auf. Da geht schon ein Korb nach über Tage, ohne uns. Wat solls. Kommt auch nicht drauf an.
Die Strecke teilt sich noch mal. Wir halten uns rechts, den Schienen nach, die zum Füllort führen. Erst jetzt merke ich, dass ich schon etwas gebückt gehe, den Kopf leicht einziehe. Ich schaue zu Hüseyin rüber. Er ist etwas kleiner als ich. Geht normal. Für ihn scheint es auch alles seine Richtigkeit zu haben. Er war sicher schon zig mal hier. Kennt sich aus. Gut, dass er dabei ist. Am Füllort ist es noch niedriger. Ich kann fast nicht mehr aufrecht stehen. Wir setzen uns zu ein paar andern Kumpels, die auch ausfahren wollen. Es ist einigermaßen trocken, aber seltsam kalt. Wieso sind hier keine Gleise mehr. Wie füllen die denn hier …
Da kommt der Korb. Ich knalle mit dem Helm ans Hängende als ich aufstehe. Ist es noch niedriger geworden in den paar Minuten? Der Anschläger schiebt die Gitter zur Seite, zwei, drei Kumpel steigen gebückt vom Korb, dann krauchen wir hinein. Es passen überhaupt nur vier oder fünf Kumpel auf den Korb. Im Sitzen, Beine angezogen. Hüseyin?
Ja, is gut, fahr schomma aus, ich komm nach.
Wir sacken ein paar Meter ab. Ist der Maschinist besoffen da oben? Dann ruckelt der Korb, rast hoch. Dreht sich in Spiralen aufwärts. Gibts denn sowas? Aus welchem Jahrhundert ist das hier? Durch den Maschendraht seh ich die Spurlatten kreiseln. Der Korb schlackert. Es geht nach oben. Es geht doch nach oben? Ja, durch den Gitterrost seh ich das fahle Licht des Füllorts unter mir immer kleiner werden.
Weisse warum dat Rost heißt. Wenn dir hier wat ausse Tasche fällt, landet es im Sumpf. Möcht nich wissen wat da schon allet liecht. Und wenn du hier mal ordentlich aufstampfst, fliegste mit dem ganzen rostigen Ding wieder da runter, wo de gerade hergekommen biss. Und wir mit. Also nimm ne Prise und halt endlch deine Beine still.
Hatte gar nicht gemerkt, dass ich die ganze Zeit nervös mit dem Bein zucke. Es zischt und rattert zwar immer wieder, als würde irgendwo weit weg gearbeitet, aber wir kommen an keiner einzigen Sohle vorbei. Ich sehe nirgends Licht auf dem Weg nach oben. Endlich bremst der Korb ab. Mittten im Schacht. Es ist immer noch dunkel. Wieso ist hier nicht das gleißende Tageslicht, wie sonst beim Ausfahren, ist es etwa schon wieder dunkel, hier draußen?
Nein, als die Gitter aufgehen, sind wir gar nicht auf einem Förderturm, ich steige vom Korb und stehe weder auf einer Hängebank, noch auf einem Podest, einer Stahltreppe, oder überhaupt oben auf einem Fördergerüst. Ich mache einen Schritt direkt auf einen sandigen Waldboden. Ebenerdig. Tannennadeln, modriges Laub. Ein wilder Wald mit Baumkronen so dicht, dass kaum Sonnenlicht durchkommt.
Sollte hier nicht der Zechenbus auf uns warten, uns zurückbringen. Dahin, wo unser Alltagsleben in Körben unter der Decke der Waschkaue hängt? Wie soll denn ein Bus hierher in den Wald …? Oder müssen wir erst noch ein Stück zu Fuß gehen? Wo sind die anderen?
Als ich mich umschaue ist da nichts, was an einen Bergwerksschacht erinnert. Kein Maschinenhaus, kein Förderturm, keine Seilrollen. Wo soll denn da ein Korb hängen? Wie bin ich denn gerade hier hochgekommen?
Es sieht aus wie eine von Bäumen und Gestrüpp überwachsene Höhle im Fels. Kaum verschlossen durch leicht verbogene Stahlgitter, von denen die Rostschutzfarbe längst abgeblättert ist. Eher ein alter Stollen als ein Schacht.
Wo habe ich das schon einmal gesehen? Komm, komm schnell! Lassie will uns was zeigen. Timmy ist verschüttet. In der Kinderstunde klettert Timmy heimlich in den alten Silberstollen. Und natürlich geben die verrotteten Holzstempel genau in dem Moment nach, als Timmy im Stollen ist. Ich weiß aber schon als Kind, das ist nur eine Geschichte in der Flimmerkiste, uns passiert das nicht, wenn wir uns durch den Maschendraht zwängen und irgendwo reinklettern. Eltern haften für ihre Kinder.
Ich versuche, die schweren Gitter auseinander zu schieben. Zu schwer. Stecke den Kopf hindurch. Da ist kein Schacht, es ist tatsächlich ein Stollen. Ein Gitter gibt nach, schwingt zurück. Ich zwänge mich durch. Auf den Knien.
Das Blut pochert unter dem Schädel, klopft von innen an die Schläfen. Der Helm hält die Schädelplatten in Form. Mir ist kalt vor allem im Nacken. Das Halstuch ist feucht.
Hüseyin sitzt an die Wand gelehnt. Ich leuchte in sein kohleschwarzes Gesicht. Seine Augen flackern mir aus tiefen Höhlen entgegen. Aber sein Mund lächelt ruhig. Die Zähne strahlen weiß.
Da sind mindestens fünf, die wollen da unten bleiben. Die kriechen da immer weiter rein. Zwei sind schon ganz weg. Schon farblos geworden? Ein Moment der Ruhe, sie haben es also geschafft. Wieso kann ich dann nicht weiter. Ich lege mich hin, schalte die Lampe am Helm aus. Ein piepsendes Rauschen dreht im Innenohr. Die Hände kribbeln. Feine Stacheln rauschen durch meinen Körper. Breiten sich von innen aus. Kommen nicht heraus. Bleiben stecken in der Haut. Elektrisch. Taub und stachelig zugleich. Ich kann mich nicht bewegen. Alles rauscht. Etwas dreht sich über meinem Helm. Ich spüre meine Beine nicht. Das Kehlchakra ist zu.
Da hinten ist ein Blindschacht. Und es geht wirklich tief hinab. Nach innen.
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