Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.
Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.
#29 Im Blindschacht
— 2021
Zum Blindschacht, wirklich? Wieder runter? Ich sehe keinen Förderkorb. Da ist nichts, nur schwarz, nur Leeere, kein Grund zu sehen. Ich schaue mich um. Hüseyin? Er sitzt noch immer da. Eingeschlafen? Schläft er? Jetzt? Hier? Sein Licht ist aus.
Ein junges Mädchen schwebt heran, verwirrt, wohin? Kreist über ihm, hockt sich auf ihn, den Rock hochgezogen. Nein, er ist es nicht. Sieht nur so ähnlich aus. Sie vögelt ihn, außer sich. Dreht sich zu mir um, zieht mir eine Reitgerte über hundert Meter durchs Gesicht, ich erkenne sie. Stimmlos wendet sie sich ab. Lass mich, das geht dich gar nichts an. Ich steige hier aus. Sie hat ein blaues Auge. Liegt plötzlich im verklebten Nachthemd in einem schmalen Bett mit blutverschmierter Scham. Schlägt an den Schrank, schnaubt. Die orangene Grubenwehr schnallt sie auf einen Stretcher. Sie fleht mich sprachlos an. Ich schaue weg, nein hin. Mit gesenkten Augen. Hebe kurz die Hand. Zum Abschied.
Ein Schatten tanzt an Hüseyin vorbei. Kommt auf mich zu. Wird dichter. Hält einen Abbauhammer umgeschnallt, quer vor sich lässig in den Armen. Lange Locken quellen unterm Helm hervor, wehen ihm im Wetterstrom um die schmalen Schultern. Kichert vor sich hin. Blickt kurz auf, als er an mir vorüber geht. Hör auf, so viel Milch zu trinken. Milch ist Nahrung, kein Getränk. An seiner Unterlippe klebt ein Joint. Da ist kein Gitter mehr am Schacht, nie eins gewesen. Er dreht sich um und rockt. Luftgitarre auf dem Abbauhammer. Reisst die Arme hoch. Das ist seine Bühne. Von unten hallt der Sound zurück. Sein großer Gig. Dann ist er weg. Stürzt einfach weg. Ich renne zum Schacht. Robbe an den Rand, sehe ihn noch fallen immer tiefer in das fahle Licht am Füllort.
Ich lass mich über die Kante rutschen, steige in die Schachtwand ein. Hangele die Fahrt hinunter, so schnell ich kann. Lasse immer wieder los, damit es schneller geht, falle ein zwei Meter, fange mich an jeder dritten, vierten Sprosse auf und lasse wieder los. Vielleicht kann ich so schneller klettern, als er fällt. Vielleicht kann ich ihn auffangen. So ein Schwachsinn. Die Musik ist aus. Ich höre, wie er aufschlägt. Direkt in einen Bergwerksrollstuhl. Bergwerksrollstuhl? Er grinst hoch. Winkt. Fährt in die Strecke.
In der fünften Sohle flackert Licht, eisblau und violett. Ratinger-Hof-Licht. In wild gemalten Bildern frißt der Berliner Bär den Kölner Geißbock. Der alte Freund verschmiert die Farbe auf der Leinwand, steht da am Flipper, dreht sich besoffen zu mir um, grinst, freut sich, lädt mich ein, spuckt die kalte Kippe aus dem Mund und spielt an seinem Grabstein weiter.
Erst jetzt sehe ich … nein, nicht erst jetzt, mein Gewissen weiss genau, mit welcher Kraft er traurig ist. Verzweifelt traurig. Er liebt mich, wie nur einer, als seinen Anker, dabei drifte ich, drifte ab mit ihm, in den Suff, bis ich nicht mehr kann. Seine Trauer brennt mir in den Rücken. Ich steige weiter ab.
Die Flamme in der Grubenlampe zittert schon am Gürtel. Das Hemd offen über seiner breiten Brust, in der Jacke eine leere Flasche Korn, kommt der Onkel mir entgegen. Siebzehn Stufen, zählt er vor sich hin. Kurz guckt er hoch, verwundert, nicht verwundert Mensch, dat ich dich hier auch ma treffe. Siebzehn Stufen rutschen immer wieder weg. Er kommt nicht von der Stelle. Tritt daneben. Sturzbetrunken, stürzt er nicht. Hält sich am Geländer fest. Er kennt seine siebzehn Stufen. Siebzehn Stufen bis nach Haus. Siebzehn Stufen knacken unter ihm. Nein, was da knackt, ist das Holz der Stempel hier im Streb. Wie lange ist das her? Er läuft, er klettert, er muss hier raus, noch ein Schluck, er stößt mit der Schulter an, stürzt, fällt, reißt die Augen auf, die Angst klebt seine schwarzen Haare an den Kopf. Das ist nicht seine Grubenkappe, das ist ein Stahlhelm und das ist keine Hacke, das ist seine Karabiner98k, das ist kein Streb, das sind keine Stempel, das sind Bäume, schon wieder, nicht schon wieder, der Wald in Jugoslawien. Der Stahlhelm stört beim Rennen, diesmal muss er sie bekommen, die Hirschkuh, die er schon so lange jagt, dann bleibt sie stehen, plötzlich, dreht sich um, spreizt die Beine. Er findet keinen Halt. Kein Halten mehr. Nie mehr. Auch nicht im Suff.
Ich steige weiter ab, jetzt will ich alles sehen.
No Comments