Autofictional Shorts

#31 Überholspur

9. Juni 2021

Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.
Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.


 #31 Überholspur

— 1976

Regen rast um den Sattelschlepperreifen. Tost über den Asphalt. Eine Armlänge entfernt, neben dem Beifahrerfenster. Mal etwas weiter vorn, dann etwas weiter hinten. Zischen seit Minuten, Stunden. Spritzen. Sprühen. Und in dem Inferno neben mir entstehen immer wieder dicke Tropfen, die sich in Ruhe sammeln und gemächlich, wenn ihre Zeit gekommen ist, in sanften Kurven nach und nach vom Laster fallen lassen.

Entschlossen drückt Claus das Gaspedal ins Bodenblech. Der R4 gibt alles. Die Scheibenwischer, welche Scheibenwischer? Es tropft aus dem Kassettenfach. Das Autoradio ist aus. Wasser dringt durch alle Ritzen. Feiner Sprühnebel verteilt sich im Wagen, mischt sich mit dem Qualm der dünnen Selbstgedrehten zwischen seinen schmalen Lippen.
Warten auf die nächste Steigung. Hinter Wuppertal. Vergiss es. Schräg vor uns setzt ein Zug den Blinker. Eingekeilt.

Zwischen Eltern, Claus, Akademie. Lass dich fallen, wohin? In den Regen.

Wieder sitze ich mit der Stirn an einer Autoscheibe und träume. Träume mich als Wasserwesen in die Wasserwildnis neben mir. Träume mich in keine Zukunft. Nein? Erstmal rechne ich. Wir wechseln uns ab, um Sprit zu sparen. Sehr vernünftig. Abwechselnd Bochum – Düsseldorf. Nur dass Claus in Langendreer wohnt. In einer eigenen Wohnung. Er hat schon eine eigene Wohnung und auch schon eine eigene Freundin. Nicht so wie ich, der das ausgspähte Mädchen erst noch jemandem ausspannen muss. Meinem besten Kumpel. Weg mit dem Gedanken jetzt.

Rechne.
Fünfundachzig Kilometer, wenn ich ihn abhole. Von zu Hause sind es nur fünfundfünfzig. Ihn abzuholen in Langendreer ist für mich ein Riesenumweg. Wenn er mich abholt liegt es auf der Strecke, deswegen fährt er nur fünfundsechzig Kilometer. Und ich steh schon draußen vor der Tür, wenn er vorbeikommt. Warte, warte, manchmal eine halbe Stunde. Während er sich meistens gerade einen Kaffee kocht, wenn ich zu ihm komme, um ihn abzuholen. Ich muss hier raus. Überall raus. Aus meinem Zimmer, aus der vernünftigen und deshalb so bescheuerten Verabredung, abwechselnd zu fahren.

Aber er kennt sich eben aus, ist ja auch viel älter, bestimmt schon dreiundzwanzig und politisch echt gut drauf. Auf seinem Reißbrett zeichnet er mit dünnem Bleistift große Bilder vom Guerillakampf. Vom Kampf der Schwarzen in Rhodesien. Ich weiß nicht, wo das ist. Ich zeichne Kumpels aus dem Bergbau. Hüseyin und all die anderen. Das Zeichnen haben wir gemeinsam. Wahrscheinlich kann ich von ihm lernen. Nicht nur zeichnen. Auch alleine leben. Wie sieht das aus, wie fühlt sich das für ihn an? Es riecht gut nach Kaffee, leider auch nach Zigaretten, wie zu Hause. Auf dem Tisch der Rest von einem Zweierfrühstück. Wo ist denn deine Freundin überhaupt? Ich hab sie noch nie gesehen.
In der Schule. Arbeitet als Lehrerin. Ich mach uns noch einen Kaffee. Sollen wir überhaupt fahren? Heute? Ich meine bei dem Wetter?

Ich hab heute nachmittag Präsentation. Mit den neuen Zeichnungen. Ich muss da heute hin.

Wie ist es gelaufen. Was haben sie gesagt?
Zuerst ist nur Luise da, in einem ihrer Flatterkleidchen. Sie sagt, es ginge ihr heute nicht gut und schenkt mir einen Cognac ein und noch einen zweiten. Meint ich, ich sähe jetzt viel besser aus, so ohne meinen Hippiebart. Richtig gut, ein anderer Mensch.
Dann kommen noch Dings und Dongs dazu. Es gibt noch eine Runde Schnaps und ich packe meine Blätter aus. Breite alles auf dem Boden aus. Sie schauen sich gar nicht alles an. Nicht die Details, die Hände, die Augen, die Haltungen, die wie ich finde jetzt viel besser sind.

Dann schicken sie mich kurz raus, als wäre es eine Prüfung. Und plötzlich ist die Stimmung ziemlich ernst. Warum zeichnest du das? Was interessiert dich an den Leuten? Und warum mit Rapidograph und Tusche? So wird das nichts. Nicht hier. Mach dich frei vom Ruhrgebiet. Guck mal, die Welt steht dir doch offen. Du bist jetzt hier. Kannst machen, was du willst. Sogar den blöden Bart hast du schon abgenommen. Aber das ist doch, was ich will. Oder will ich das nicht? Dings legt mir seine dicke Hand auf eine Schulter, der Geruch von Terpentin überdeckt kurz sein Parfum. Er schaut mich aus glasigen, dicken Augen an, sucht nach Worten, lange, angestrengt. Dongs findet sie und murmelt dann in seinen Bart. Wenn du so weitermachst, ich meine so — er nickt zu meinen Bildern — wirst du Alkoholiker.

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