Auf der anderen Seite - Traumtexte

#3 Besuch

4. August 2021

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #3 Besuch

Die Rätische fährt in leicht geschwungenen Kurven weit über der Baumgrenze im Gletscherfeld durch meinen Traum. Dort oben fährt die Bahn von rechts nach links durchs Bild, immer mit mir auf Augenhöhe und doch viel weiter oben kurz unter dem Gipfelkamm der Alpen. Ja, es sind die Alpen. Alles ist vertraut. Da drüben liegt Furtschellas. Die Bahn fährt auf dem Talski und manchmal geht ein kleines Schneebrett ab. Wie immer hab ich die anderen verloren. Ich flieg allein in unserem blauen Auto rum. Zieh am Lenkrad und immer höher geht’s den Hang hinauf, lege mich sanft in die Kurve. Schon bald auf gleicher Höhe mit der Bahn fliege ich am Zug entlang. Niemand, den ich kenne, sitzt da in den Wagen. Nein überhaupt niemand. Fenster für Fenster, für Fenster.

Da ganz weit unten seh ich sie. Ihr roter Anorak erscheint mal hier, mal da zwischen den eingeschneiten Arven. Sie fährt sehr elegant. Jetzt stapft sie ein paar Meter höher. Wie komm ich denn da runter. Noch immer hab ich das Auto an. Ich streck die Arme durch die Türen. Die Türen fallen ab. Im Rückspiegel ein Rucksack. Gleitschirm? Ich kann einfach runterspringen, bin schon längst gesprungen, wie aus einem Sessellift, die Ski schon angeschnallt. Am rechten Fuß hängt noch das Gaspedal vom Auto, stört aber nicht.
Jetzt hier im Pulverschnee.
Wache ich auf.

Unter den Dachschrägen stehen rechts und links unsere Betten der kleinen Kammer. Von der schweren Holztür zum zeitungsgroßen Fenster in der meterdicken Giebelwand führt ein schmaler Gang. Wenn ich den Arm ausstrecke kann ich ihr Bett berühren. Es ist dunkel, kein Mond, keine Sterne. Der Himmel nicht zu sehen und auch die Straßenlaterne leuchtet nicht hier hoch, dazu ist die Wand zu dick, das Fenster viel zu klein.

Wovon bin ich aufgewacht. War da ein Geräusch? Hatte ich geträumt.
Ich lausche. Sie atmet ruhig. Schläft. Sicher genauso wohlig müde wie ich nach diesem Tag. Klare Sonne, glitzernder Schnee. Die Gondeln am Corvatsch nicht sehr voll. Nach der letzten Abfahrt Engadiner Nusstorte. Die Beine schwer vom tiefen Schnee und dem Williams nach dem Abendessen.

Trotzdem liege ich jetzt wach. Unruhig. Unangenehm unruhig. Ich spüre jemanden im Haus. In der Tenne? In der Skikammer? Träume ich?

Nein, ich bin wach, weiß, dass dort jemand ist. Bei den Ski, bei meinen Ski. Bricht da jemand ein. Hinter der Wohnstube geht es drei, vier Stufen hinunter in die Kammer, in der die Rückwand des Kamins die Ski und Stiefel wärmt.
Ja, ich bin mir sicher. Mitten in der Nacht? Wer? Ist unten noch jemand wach? Hört da niemand etwas? Ich höre nichts, kein Geräusch. Woher weiß ich, dass dort jemand ist? Ich sehe, weiß, da ist jemand bei meinen Ski. Nur die Ski, nur ansehen. Ansehen? Nur ansehen?

Okay, ich gehe runter. Zu spät. Es geht nicht.

Jetzt ist es auch hier im Zimmer. Es? Ja, es ist im Zimmer. Beugt sich über sie im anderen Bett. Ich will aufspringen. Ich will rufen. Nichts. Traue mich nicht, darf mich nicht bewegen. Nicht den Kopf, nicht die Augen. Starr aufgerisssen, sehe ich nichts? Jetzt ist es wirklich finster. Da beugt sich etwas über mich. Ganz nah. Über mein Gesicht. Kalter Schweiß. Bin wie gelähmt. Nein, bin gelähmt.
Wach auf!
Ich bin wach.
Sag was!
Wecke sie.
Geh rüber zu ihr.
Es geht nicht. Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin starr, ja wirklich starr vor Angst.
Was ist das? Ich glaube nicht an Gespenster.
Da ist niemand.
Ich spüre doch seinen Atem.
Das ist kein Atem.
Was spüre ich dann? Da sitzt jemand. Da ist niemand. Jetzt geht es zum Fenster. Dreht sich um. Steht dort.
Rüttle dich wach.
Ich bin wach.
Mach die Augen auf.
Sie sind auf.
Ich sehe nichts. Nichts. Aber ich spüre es. Plötzlich weg. Whoosh. Mein T-Shirt ist nass.

Ich versuche, wieder zu schlafen. Meine Güte. Was war das? Gut, dass ich sie nicht geweckt habe.
Im Morgengrauen überwinde ich den schmalen Gang, schlüpfe unter ihre Decke.
Hast du nichts gemerkt?
— Nein. Wollen wir runter gehen zu den anderen, die frühstücken schon.
— Ja, guck dir das Wetter an. Keine Wolken bis zum Gipfel.
— Hoffentlich sind deine Ski noch da.
— Ha ha.

Wir steigen aus unserer Dachkammer die Treppe an der Seite der Tenne hinunter. Ich werfe von oben einen Blick auf die Tür der Skikammer. Zu. Wie immer. Noch ist niemand auf der Piste. Es duftet nach Kaffee. Aber was ist los? Weint da jemand?
— Was …?
— Sie haben gerade angerufen. Vonow ist heute nacht gestorben.

Vonow, dem das Haus gehört. Das alte Haus gehört. Gehört hat.

    Leave a Reply