Auf der anderen Seite - Traumtexte

#5 Schellack

15. September 2021

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #5 Schellack

Die Schleuse kommt aus dem Hintergrund schnell näher, als ich die verharschten Schneewehen hochkrauche. Sie sieht, wenn ich aufblicke, immer mehr aus wie der bekannte Backsteintraumbahnhof in Höntrop, Steele oder Kray. In den zugefrorenen Schleusenkammern fahren wirklich rostige Regionalzüge neben Lastkähnen hin und her. Auf den Schienen am Ufer rollen haushohe Vorkriegskräne sinnlos auf und ab. Es schneit. Alles ist in Bewegung, ruhig, langsam verschiebt sich alles gegeneinander. Langsam zum Einsteigen, mit offenen Türen fahren die Züge. Ohne anzuhalten. Paternostermäßig. Hop on. Hop off. Hin und her. Fahren, fahren. In welchen Zug? In welche Richtung? Ich gehe ein paar Schritte neben einer Bahn. Alles voll. Ich trabe am Zug entlang. Erst jetzt sehe ich, dass auch unter dem Eis fahlweiße Pferde mit langen Bärten (oder sind es große Ziegen?) Karren ziehen. Manchmal blubbert eine Blase aus den Karren auf, verteilt sich unter dem Eis. Beim letzten Waggon quetsche ich mich an den Leuten vorbei durch die Türen. Bin in einem Zug. In der Mitte des Wagens ist es leerer. Ein Typ klaut mir ein Taschenmesser aus der Hose. Ich jage es ihm ab. Ist das überhaupt meins? Er lacht, hat schon wieder was geklaut. Ich schlage ihn nieder, heftiger als geplant, wechsle lieber das Abteil.

Zu meiner Überraschung klappe ich ein Fahrrad an meinem Taschenmesser aus. Ist wohl doch ein Leatherman. Die Sonne scheint, die Landstraße ist staubig. Die Tankstelle zu teuer. Dahinten ist noch eine. Aber ich bin doch zu Fuß. Oder mit dem Fahrrad? Es weht ein heißer Wind. Der Staub knirscht auf den Zähnen und auch in der Fahrradkette. Wird dort zermahlen und tropft rot auf den Weg. Das ist kein Staub. Was ist es dann? Die Bäume sind mit Schellackläusen überzogen. Ein Schellackläuseparadies. Von oben grinst mich die dicke Schellackläusechefin an. Der Harz tausender Läuse ist über allen Ästen und der Brut der Läusekolonien in dicken Krusten fest geworden. Ich breche ein Stück ab, die aufgequollenen Läuse laufen mir als rote Farbe längst abgestorbenen den nackten Arm hinunter. Ich brauche Spiritus. Die Tankstelle sieht von nahem besser aus. Aber hat die überhaupt einen Laden? Nicht wirklich. Nicht so wie bei uns in Deutschland. Ich stelle meine Satteltaschen auf der Fahrbahn vor dem Eingang ab, nicht die Ortlieb, so eine altmodisch Doppelte aus festem braunen Segeltuch. Sie steht im Weg. Erregt Aufmerksamkeit. Jemand wie Joachim Krol murmelt im Vorbeigehen »Labertasche«. Tritt dagegen. Aus Versehen fliegt die Tasche mitten auf die Fahrbahn. Ist ihm unangenehm. Das hat er nicht gewollt. Er stellt sie zurück an den Rand. Ist dann der freundlichste Tankwart und Verkäufer. Ich frage nach Spiritus.
—Hä? Ach doch, ja, haben wir.
—Wie teuer?
—20 oder 30.

Ich muss mein Tauschzeug aus der Satteltasche holen. Hab sowieso immer hingeschaut, ob etwas gestohlen wird. Er stellt mir eine alte Flasche Flutwein hin. Ein Viertel voll mit Spiritus. Die Flasche riecht nach Essig.
—Ist das wirklich Spiritus?
—Ja, hat nur die Katze drauf gepinkelt. Wofür brauchst du denn den Schellack? Keiner weiß hier, was das ist. Sie fühlen sich verarscht. Mach lieber das du wegkommst.
—Hier ist doch niemand außer dir.
—Sie sind überall.

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