Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)
#6 Speere
Im weiten Bogen schwingt die abendliche Flanierpromenade aus. Lichter, Stimmengewirr, Gläserklingen und Gerüche laden in die Tavernen und Brasserien ein, die sich auf der gegenüberliegenden Seite aneinanderreihen. Die sommerliche Hitze des Tages ist zu wohliger Wärme abgeklungen. Die Tische auf den Terassen sind fast alle besetzt, aber innen, das weiß ich, erstrecken sich die schmalen Restaurants oft über hundert Meter in die alten verschachtelten Gebäude. Alles ist mir sehr vertraut. Ich kenne mich hier aus, hier ist doch irgendwo die versteckte Tapas Bar, von der aus man in die riesige Foyerhalle des Museums hinunterschauen kann. Welche nochmal? In dem was nochmal ausgestellt ist? Das Dinosaurierskelett, der Altar von Pergamon, die Bleiflugzeuge von Anselm Kiefer, der augegrabene Mosaikboden der römischen Villa, die flackernden LED-Wände von Pierre Huyghe?
Ist das Wasser hinter mir gar nicht das Mittelmeer, der Pazifik, sondern der Rhein, der Main, der Landwehrkanal? Endlich finde ich mein Lieblingsrestaurant, ich kenne den Kellner, er nickt mir zu. Ich gehe mit meinem Tribe hinein. Der Kellner begrüßt mich, fasst mich am Elenbogen. »Lange nicht gesehen, mein Lieber.« Nenn mich nicht mein Lieber. Er erschrickt, führt uns weit nach hinten, wo man wie im Amphietheater wieder unter freiem Himmel sitzen kann.
Dahinten, das Dunkle in der Ecke links oben hinter der Gartenmauer ist bestimmt der Wald, könnte doch der Wald sein, aus dem damals der Angriff gekommen ist. Nein, nein. Der Kellner kennt sich aus, stellt uns Gläser und Tapas hin.
— Der Angriff fand viel weiter vorn statt, fast hier über eurem Tisch, seht ihr dort oben, wo die Steine aus der Mauer herausgebrochen sind. Von da haben sie ihre Speere geschleudert. Zwei ziemlich steil nach unten, bis hierher, wo ihr jetzt sitzt, und zwei sehr weit, hunderte Meter in den Raum, tief in die Stadt hinein. Tödliche Waffen, die die gesamte Stadt zerstört haben, fast die Hälfte der Bevölkerung. Tot.
— Vier Speere? Nur vier Speere? Woher weiß man das so genau?
— Kann man an den Mauern sehen, die sie durchschlagen haben, an den Gräben im Boden, an den Schneisen, die sie in der Stadt hinterlassen haben.
— Und die Speere?
— Wurden nie gefunden.
Ich schaue mich suchend um. Das kann doch nicht sein. Ich will mir die archäologischen Spuren ansehen. Im oberen Abschluss der ausschwingenden Sandsteinmauer fehlen wirklich ein paar Meter, als hätte sie eine Zyklopenfaust weggeschlagen oder als wären sie — ganz einfach im Laufe der Jahrhunderte heruntergefallen. Jetzt ist alles in dem angefressenen Zustand säuberlich und touristentauglich restauriert und befestigt. Nur im farbigen Fliesenmosaik auf dem Boden sind wirklich, wenn man wie ich jetzt genau hinschaut, ein paar Kratzer zu erkennen. Die könnten aber auch vom Stühlerücken kommen. Und überhaupt, lag denn damals zur Zeit des Angriffs überhaupt dieser Fußboden schon? Das sieht doch sehr nach einundzwanzigstem Jahrhundert aus.
— Du musst auf die Mauer steigen, mein Lieber, dann siehst du es.
Ich komme an der offenen Küche vorbei, die ein improvisierter OP-Raum ist. Grelles Licht von der Decke scheint auf einen durchsichtigen Darm. Es pulsiert, rot, blau. Blutige Handschuhe und eine blaue Gesichtsmasken. Wer liegt da? Ist das noch ein Mensch? Bin ich das? Nein, ich stehe hier am Türrahmen, spüre wie es von den Seiten dunkel wird. Jetzt nicht in Ohnmacht zu fallen. Das geht doch gar nicht ich schlafe doch schon. In der Narkose? Geh weg! Reiß dich los! Mach nicht noch mehr Probleme und lass die hier ihre vergebliche Arbeit machen. Von einem Handschuh tropft Blut und Kot vor mir auf den Boden. Ich bin barfuß.
—Gehen Sie ruhig raus. Kein Grund zur Scham.
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