Auf der anderen Seite - Traumtexte

#7 Der Berserker

29. September 2021

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #7 Der Berserker

Weit weg tief unten im Hintergrund der schwachgelb beleuchteten Nacht in Potsdam West steht mein Motorrad auf dem menschenleeren Bürgersteig. Aber wo bin ich? Von wo aus sehe ich das? Stehe ich auf einem Hausdach? Nein, ich schwebe hoch über der leicht geschwungenen Straße. Sehe von hier oben, wie ich das Motorrad ablade. Arme voller Gepäck, das ich mehrere hundert Meter mir entgegen trage. Hier hoch. Plötzlich stimmt etwas nicht, ich laufe zurück in Richtung Moped. K. ist nicht mehr da. Ich werfe das Gepäck weg. Bin jetzt ganz in mir.

Durch einen stoffverhängten Zaun wabert eine lange Diskussion zwischen K. und einem Typen zu mir heran. Sie streiten über jemanden, der sich psychotisch benimmt. Sind sich uneinig. Bis ich merke, dass der Typ selbst der Psychopath ist. Ein schwaches Licht flackert durch den groben, an manchen Stellen fadenscheinigen Stoff. Ein Lagerfeuer, ein improvisiertes Camp, ich schleiche mich am Zaun entlang. Der Typ, der Jemand geht nicht weg. Ich habe Angst um K., schleiche weiter, warte, versuche mehr zu sehen, Intel zu bekommen, die Situation zu überblicken, einzuschätzen. Dann sehe ich mehrere Typen im fahlen Licht. (stoned?)
Es kracht. Jemand, etwas läuft hinter dem Zaun ganz in der Nähe an mir vorbei. Gebeugt, den Oberkörper fast waagerecht, sogar ein wenig durchhängend in Lumpen und Decken gehüllt, wie Barlachs »Frau im Sturm«. Nur nicht so entschlossen. Weinerlicher. Sucht offensichtlich K., versucht, sie anzulocken.
Ich merke, dass ich Barlachs Skulptur falsch erinnere. Sie stellt gar keine Frau dar. Er nennt sie »Der Berserker«. Ist voll konzentriert mitten in der Arbeit und wundert sich: Sollte es möglich sein, daß ein Weltkrieg geführt wird und man ihn über einem zentnerschweren Tongebild vergißt? Es ist 1914. Aber ich bin nicht schon wieder in den Gräben. Und der Berserker hat keine Lumpen, sondern sehr wohl einen weiten, festen Mantel an, der im Sturm weht. Habe ich das lumpenhafte erinnert, weil er trotz des Mantels keine Schuhe trägt? Den Oberkörper waagerecht nach vorn gestreckt, geht er energisch seinem Ziel entgegen, der Berserker, mit einem Säbel, den er mit beiden Händen über dem Rücken schwingt.

Plötzlich spüre ich: K. hat sich schon gerettet. Ich sehe auf. Da sitzt sie auf einem großen Pferd hinter mir, auf diese Seite der Zauns, als dünne, grün fluoreszierende Umrisszeichnung. Sagt souverän: Komm wir gehen.
Sagt sie das zu dem Typen? Zu mir?

Ich wache auf, liege flach auf dem Rücken, die Arme neben mir, muss dringend ins Bad, traue mich nicht. Schon wieder ist jemand, etwas im Raum. Ich sehe wieder, den in der späten Dämmerung vom gelben Licht der Laternen erleuchteten Weg zum Kapellenberg, den der Hund mal wieder auf keinen Fall den Weg hochgehen will. Er will zurück, nicht weiter, legt sich auf den Boden. Ich versuche, ihn zu überreden, gehe vor, warte. Rufe ihn. Er bleibt liegen, schaut zu mir, ich kehre um, will ihn holen, da ist er schon auf den Beinen, wendet sich weg, geht in Richtung nach Hause. Wartet auf mich, ich rufe ihn, er geht ein paar Schritte weiter weg. Bleibt wieder stehen. Ich bin bei ihm, nehme ihn an die Leine, ziehe ihn gegen seinen Widerstand auf den Kappellenbergweg. Er gibt nach. Plötzlich trifft es ihn heftig im Gesicht. Er jault auf, wirft sich auf den Boden, schaut sich um. Schaut zu mir hoch. Er ist gegen etwas Unsichtbares gelaufen. Ich knie mich zu ihm, beruhige ihn, da ist nichts. Wir gehen weiter.

Jetzt sind meine Arme taub, kribbeln. Ich kann sie nicht bewegen.
Natürlich kannst du deine Arme bewegen.
Ja dann mach doch.
Ich könnte, wenn ich wirklich wollte.
Also kannst du nicht, weil du nicht willst? Will doch einfach mal. Nur ganz kurz, nur um zu sehen, dass du es kannst.
JA! Kann ich. Natürlich kann ich meine Arme bewegen, das muss ich mir nicht beweisen. Ich will nur eben nicht.
Sie kribbeln, meine Arme, liegen neben mir.

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