Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)
#24 Ölschinken
Rosenstöcke mit welken Blüten hinter dem schmiedeeisernen Zaun eines Berliner Altbaus, vielleicht in Charlottenburg. Oben unter der Decke eines mit Grünpflanzen und Efeu überwucherten Balkons im dritten oder vierten Stock hängt ein weißer Spielzeughund. Der dann aber doch ein echter Hund zu sein scheint, weil er, so wie er da aufgehängt ist, ein Bein hebt und herunterpinkelt. Auf einen verwitterten, weißen Sonnenschirm im verwilderten Vorgarten. Der Sprühnebel reicht bis weit über den Bürgersteig. Kleine Tropfen treffen mich (oder uns, ich weiß nicht, wer da neben mir geht). Es stört mich nicht. So ist die Welt. Sprühnebel ist überall.
Dreht sich um uns. Immer.
Hüllt mich schon wieder ein in Tücher aus blattgolddünner, farbiger Metallfolie. Golden, blaue Derwischkleider noch feucht vom Schweiß der wilden Tänze. Bekommt man Luft unter der wirbelnden Folie. Ja und nein, man muss einverstanden sein.
Da sitze ich umschlungen in dem wilden, weiten Goldkleid im Bahnhofsrestaurant draußen am Griebnitzsee. Es ist viel voller als gewöhnlich. Die offene Küche improvisierter und zusammengewürfelt, beinahe die Festivalküche einer Hippiekommune irgendwo in Portugal. Es gibt Nudeln, Bowls, vegan stuff. Das ist neu.
Wir stehen an einer, unserer Thekennische außen vor dem Fenster. Ein Barista-Rookie schäumt Milch auf. Dick wie Sahne quillt sie aus dem übergroßen Topf. Ich wundere mich, dass ich den Tölpel eher lustig finde. Er wirft die Milchpackungen in den blauen Papiercontainer direkt hinter dem Fenster. Saurer Geruch weht herüber. Das geht jetzt wirklich nicht, auch nicht in so einem Restaurant, in keinem.
Unter der Theke läuft im guten Anzug ein ausgewachsener Mann, der so klein ist, dass er bequem zwischen den Beinen unserer Barhocker umhergehen kann. Er geht so selbstverständlich, selbstbewusst, als hätte er das alles selbst gebaut und schaut sich trotzdem wundernd um, als sähe er den Laden, die Theke und die Stuhlbeinlandschaft hier zum ersten Mal.
Wir gehen kurz aus der Nische wegen des stinkenden Containers und sofort setzen sich Leute in die Lücke auf unsere freigewordenen Plätze. Mir recht, aber auch wieder nicht. Ach, sollen sie doch. Ich will gehen.
Aber K. hat sich mit der Idee für eine Ausstellung auf einen Barhocker weiter weg an die hintere Bretterwand der Spelunke, zu der das alles jetzt geworden ist, gesetzt. Sie ist ganz begeistert, dass Uli, der sich über sie beugt, noch achtzehn große Schinken hat.
Ich bin getroffen, aber auch nicht, dass ist so dämlich, dass es schon wieder guttut. Ja, das solltet ihr machen. Das passt ja gut, dann sind auch mal die Wände voll. Achtzehn Ölschinken, prima.
Ich muss los, gehe genervt und gleichzeitig seltsam erleichtert die Straße runter. Biege aber dann doch schnell hinter dem Parkplatz in einen Waldweg ab. Will nicht eingeholt werden, mich verstecken, allein sein. Beschleunige noch, damit ich aus der Sichtweite komme, man mich auch von der Straße aus nicht mehr sehen kann. Ich gehe so schnell ich kann, ohne zu rennen. Neben mir fährt ein kleiner Junge auf einer Art Bobbycar-Fahrrad mit Anhänger. Ist es etwa der kleine Mann von eben? Er ist so mühelos schnell vor mir, neben mit, kurz hinter mit, wieder vor mir, dass ich glaube, er hat einen Elektrospeedmotor.
Neben dem schmalen Feldweg ein Wassergraben, Weiden, und weiter hinten ein illegaler Campingplatz zwischen kahlen Birken.
Der Junge schaut mich die ganze Zeit an. Ein Spiel? Will er mich ärgern, provozieren? Weiß er Bescheid? Hat er die Ölschinken gekauft? Ich versuche, nicht mit ihm zu reden. Wo ist seine Mutter? Da stürzt er vor mir hin, verheddert sich in seinem Kinderfahrzeug. Fast stolpere ich auch, steige aber, ohne langsamer zu werden, breitbeinig über ihn hinweg. Ich helfe ihm nicht auf. Bloß kein fremdes Kind anfassen oder sogar hochheben. Verrückte Welt.
Ich wechsle über eine niedrige Drahtabsperrung. Dahinter wird der Weg schmaler, sumpfig unter graugrünem Wintergras. Jetzt auf beiden Seiten Wassergräben. Ich hatte keine Ahnung, dass hier so nah an der Straße dermaßen viel Wasser ist. Und soviel Betrieb. Menschen schwimmen, baden, toben in den gelbmoorigen Tümpeln. Ein Ausflugsziel für Esoteriker, Zahnärzte aus der Stadt oder ein Refugium für die längst Gestrandeten?
Und dort hinten wartet ein großer Bahnstreckengleishund. Ich sehe mich im Bogen auf ihn zugehen. Nehme einen flachen Stein auf.
Im Hintergrund ein felsiger Aufstieg. Ein Wasserfall stürzt von weit oben über eine ausgetretene, in die Felsen geschlagene, Treppe. Jugendliche werfen sich in kleinen Booten, auf Matratzen dort herunter. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Das muss ich K. schicken, genau das Bild hatte ich doch gerade geträumt und ihr davon erzählt. Und jetzt stehe ich hier in einem wirklichen Traum davor. Ich will ein Foto machen, aber mein Handy bleibt schwarz. Passiert manchmal. Kenne ich schon. Ich gehe ein paar Schritte auf dem Sumpfweg zurück, er ist noch schmaler jetzt und schwankt wie ein Ponton. Ich will mein Handy nicht verlieren.
Ein Typ in Windel oder Lendenschurz kommt mir entgegen. Oder soll das eine Badehose sein? Bleibt vor mir stehen, schaut mich nur an, will mit seinen Blicken wissen, was ich denn hier zu suchen habe, voll angezogen im Wintermantel mit Handschuhen und der goldenen Folie um den Hals. Es ist doch Winter. Die Menschen baden trotzdem in der Nieselkälte. In meiner warmen Manteltasche fühle ich nur noch den flachen Stein. Wo ist das Handy? Ich hab’s gewusst, Sprühregen stört hier keine Sau. Ich mache zum Beweis ein Foto mit dem Stein. Da weiß ich, dass ich träume.
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