Auf der anderen Seite - Traumtexte

#25 TriBeCa

16. März 2022

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #25 TriBeCa

Wir fahren, gleiten schwebend über dem Verkehr durch die Stadt. New York, Potsdam vertraut, fremd. Mein Blick fliegt in trübem Wetter langsam an den Häusern entlang, hält an einem weiten Marktplatz. Zwischen Kaffeetischen und Hipster-Bierbänken stehen nur vereinzelt Marktzelte und ein paar hellblau, orangene Foodtrucks. Venice Beach Sand auf den Straßen. Wir setzen uns, bestellen.
Hinter mir ein paar halbleere Ständer für Surfboards, Ski- oder Sonnenschirmverkauf? Mit vielen Ösen, an denen man, wie ich vermute, Wimpel oder bunte Lichter anbringen kann. Eins dieser bunten Racks ist leer, bis auf ein paar Stangen.
Mein Vater steht auf, geht hin, will sich das ansehen. Ah, es sind Angeln. Beim näheren Hinsehen, sehr groß und schwer, der Griff mindestens zwölf Zentimeter Radius. Wer soll solch eine Angel hochheben? Mit beiden Händen. Wuchten. Vor dem Bauch?

Der Kaffee kommt. Mein Vater nutzt den Augenblick, niemand schaut hin. Er nimmt sich eine Angel. Offensichtlich sehr leicht. Wie ich jetzt sehe High Tech. Er drückt auf einen Auslöser und die Angelschnur schießt aus der Spule zehn, zwanzig, dreißig Meter weit. Fast bis zu uns herüber an den Tisch. Und es hört nicht auf. Meterhoch türmt sich Angelschnur in engen Schlaufen auf dem Platz. Vater versucht, sie wieder aufzurollen. Aber es geht extrem langsam, viel langsamer als mit einer althergebrachten Angelrolle. Er macht sich aus dem Staub. Verschwindet einfach. Okaaay.

Wir wollen zahlen. Aber die Bedingung ist, dass wir vorher noch die Angelschnur aufrollen. Ich versuche es, aber es geht nicht. Ich bin nur froh, dass sie sich überhaupt bewegt, nicht völlig verknotet und verheddert ist.

Mein Vater steht um die Ecke hinter einem Hippie-Van. Unterhält sich mit den Leuten. Widerwillig kommt er und fängt an, die Leine aufzuwickeln.

Mein Sohn weiß, dass man nur nichts Schweres auf die Leine stellen darf. Also überhaupt kein Gewicht. Kein Gramm. Weil sie sonst knickt, manchmal sogar bricht, wie Zuckerfäden und zu Karamellbonbons ohne Geschmack zusammenschmilzt. Die kann man dann mit jedem Flavour füllen.
Auch mit Dope?
Ich rauche doch nur CBD.

Ich hänge mit einem Knie zwischen den Sprossen des Klappstuhls und höre mich sagen: Du weißt, dass Rauchen ungesund ist? Er verdreht die Augen. Habe ich das wirklich gesagt? Bin ich jetzt soweit?
Ich meine, es ist nie gut, fremde Dinge in die Lunge zu bekommen.
Musst du sagen!

Wir fahren weiter, schweben um die Ecke. Schauen uns um, haben keine Orientierung. Biegen in die Straße links. Das ist nicht Berlin, nicht Dresden, vielleicht TriBeCa. Achtstöckig oder zehn. Riesige bunte Streifenfahnen wehen an den Gebäuden. Blähen sich in dem starken Wind von der Traufe bis zur Straße. Ich frage mich, wie die verankert sind? Reißen die nicht die Backsteine aus den Fassaden? Könnten die nicht die Häuser zum Einsturz bringen. Hinten öffnet sich die Straßenschlucht zu einem Platz. Sehr sonnig und mit dichtem Gras bewachsen. Wir fliegen runter. Landen zwischen Säulenreihen und Skulpturen auf dem weichen moosdurchsetzten Rasen.

Ich bestelle etwas an einem Tresen. Ich erkenne diesen Platz. Weißt du, das ist der Platz, auf dem wir Kaffee getrunken haben, als wir das erste Mal in Potsdam waren. Da war hier noch alles stiller. Terra incognita. Die Mauer stand noch. Die Fassaden provisorisch abgestützt. Das Licht dimmt ins Grau. Alles andere wird heller.

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