Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)
#27 Kickdrum
Die erste Zeile, die ich auf meinem Kindle lese, als ich aus dem Traum aufwache, lautet: Let’s look at the example of a man who suffered from lifelong terror of hights.
Wir sind zu mehreren. Die ganze Familie. Die Kinder sind noch klein, vielleicht fünf bis zwölf.
Im Auto hinten, ein Kindersitz. Eine ältere, fremde Frau, die sich überall reinquetscht. Dazwischen setzt. Vorne, hinten. Besteht darauf. »Wir machen das jetzt so.«
Immer wieder ist das Fahren tief unten in den Straßen, auch gleichzeitig ein Dahingleiten, ein antriebloses Fliegen. Von weit oben aus der Vogel-, aus der Sternen-, aus der Engelperspektive sehe ich die futuristische Stadt, in der wir unten auf glatten Straßen fahren. Das Gefährt fährt. Im sanften Fahrtwind Pizza, Döner, Curryduft.
Ein fremdes Berlin. Eine Stadt der Zukunft. Ein alter Film im Babylon. Spandau vielleicht, aber wir fahren nach rechts. Also nach Südosten. Nach Kreuzberg? SO36. Mir steht die ganze Zeit die Frage im Kopf, ob das alles aus schweißbaren Materialien besteht.
Riesige Häuser.
Weit hinten sehe ich einen Berg mit der gleichen Wolke, die immer am Everestgipfel hängt. Aber es ist kein Berg, es ist ein großes Gebäude. Oder ein ausgehöhlter Berg? Gebaut aus verschiedenen Materialien. Glatte braune Flächen aus poliertem Stein, oder recyceltem Kunststoff und zerklüftetes, verschachteltes Aluminium.
Jetzt bemerke ich, dass der Berg sich dreht dort hinten, so schnell, als stünde er still. Ein Wirbelsturm, ein Tornado, ein Kreisel aus Titan.
Sehr langsam, fast nicht zu erkennen kommt er näher. Kommt er näher? Ja, erst sehr langsam, dann schneller. Bedrohlich. Nein, wir kommen näher, fahren auf ihn zu. Sicher noch kilometerweit weg. Die Entfernung ist überhaupt nicht abzuschätzen. Im Näherkommen wird klar, dass es eine optische Täuschung ist. Der Gebäudewirbelsturm ist, als wir auf gleicher Höhe sind, nicht größer als der Kölner Dom. Ein Scheinriese. Ein Wohnhaus, ein Büro- und Ärztehaus, eine Kathedrale, ein Kraftwerk.
Wir fahren weiter durch die Häuserschlucht. Ja, wirklich eine Schlucht. Als seien die Gebäude lange vor ihr da gewesen, hat die Straße, in der wir gerade schweben, sich als Millionen-Autos-Fluss in die Stadt hineingefressen, immer tiefer, immer breiter. Ein Canyon aus zerklüfteten Fassaden. Glänzendes Metall, Glas, polierter Stein und Legokunststoff, sicher weit über hundert Meter hoch. Und da, da weit oben schwingen die Fassaden der gegenüberliegen Häuser über der Straße, berühren sich fast, wie die Baumwipfel einer Allee. Lassen eine schmale, beinahe zarte, gezackte Linie offen, durch die der blaue Himmel scheint. Statisch extrem gewagt.
Dort. Dort hinten auf der linken Seite ein fassadenloser Rohbau. Da weiß ich, dass der Traum dem skeptischen Verstand erklärt, wie das alles hier gebaut ist. Mehrere hundert Meter hoch schwingen schilfrohrartig lange, dünne Stämme aus Fichten- oder Pinienmetall, Äste, peitschenförmige Stangen, an denen wie kleine Blatt- oder Fruchtknoten Körbchen hängen, gondelartige Zimmer, Räume, Wohnungen. Sie werden wohl später verkleidet. Sehen erst dann stabil aus und massiv. Die Bewohner werden die Konstruktion dann kaum mehr nachempfinden können. Wie auch die Hotelgäste hier sich nicht im Klaren sind, das sie auf einem Stahlgerüst liegen, in das Betonplatten eingehängt sind. Danke Traum, dass ich hinter die Fassade sehen kann. Als hätte ich es nicht schon immer gewusst, erkenne ich zum ersten Mal, wie einem etwas Wand die Höhenangst nehmen kann. Würde man sich sonst in diese waghalsigen neuen Gondelhäuser trauen.
Hier unten in den Straßen leuchten Lampions, denn es ist Abend. Oder nicht? Sind wir drinnen oder draußen? Es ist nicht wirklich zu erkennen. Die Gondelhäuser sind jetzt auch Laternen. Beinahe Sternenlicht.
Im Vorbeischweben entdeckt K. einen Plattenladen. Sofort, nein gleichzeitig sind sind wir in einer Mall und da sitzt in seinem kleinen Bladerunner Kabuff ein junger Straßenmusiker? Schlagzeuglehrer? Psychic?
Er sitzt hinter einer Art Schlagzeug mit nur einer Tom und einer Fußmaschine. Ein glasartiger glatter, schwarzer Keramikstein ist vielleicht ein Ride-Becken.
K. hofft, dass er mir sagt, warum ich nicht mehr spiele.
Der Meister erzeugt sphärische Töne mit der Spitze seiner Sticks, die er mit leichtem Druck über die Keramik rutschen lässt. Er fragt zu meiner Verwunderung, beiläufig, was ich denn für ein Set habe. Mir ist die ganze Aufmerksamkeit sehr unangenehm. K. erklärt ihm, wie mein Schlagzeug aussieht. Er missversteht, was aber nur ich bemerke. Wir haben noch unser gemeinsames braunes Sonor Set mit der Ludwig Speedking Fußmaschine, aber das versteht er nicht, weil er aus einer anderen Zeit ist, in einer ganz anderen (spirituellen) Preisklasse denkt.
Seine Fußmaschine ist komplett aus Holz. Wie ein modernes E-Bike, denke ich.
Die beiden kommen immer mehr ins Gespräch. Immer mehr Missverständnisse. Ich stehe daneben, frage mich, wie er sein Geld verdient, möchte er am Ende etwas verkaufen. Und ich wundere mich, warum er mich nichts Psychologisches fragt. Nicht nach dem verletzten Fuß, nicht nach einer Band, nicht nach der Höhenangst. Wieso versucht er nur am Material der Drums zu klären, warum ich nicht mehr spiele? Vielleicht, sagt er, sollte ich sie mal staubwischen. Oder sagt er das nicht, denke ich das nur? Soll ich ihm sagen, dass das Set abgebaut ist und dort jetzt die Gitarre steht?
Endlich. Er zieht sich einen sehr edel aussehenden, langen lila Fellkapuzenmantel an. Setzt die Mönchskapuze und eine Holzbrille auf. Dann gehen wir gemeinsam raus. Wir verabschieden uns vor der Tür.
Die Kinder wollen weiter.
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