Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)
#34 Die Falle
Vor mir führt eine breite Treppe in die Beletage einer Wannseevilla. Nicht die Villa der Wannseekonferenz, oder doch? Eher die Liebermannvilla oder sogar die Villa Jakob am Jungfernsee? Nein, es ist keine verspielte Wohn- oder Wochenendvilla, sondern offizieller, eine Regierungsvilla aus einer anderen Nachkriegszeit.
Als ich auf dem Treppenpodest ankomme, sehe ich durch offenstehende Flügeltüren, in einen von der tiefstehenden Nachmittagssonne durchfluteten, ja, durchfluteten Salon. Im Gegenlicht erkenne ich draußen auf dem Altan einen Mann. Beobachte ihn wie er aufs Wasser schaut, in den Himmel, aufs Wasser. Ich höre, wie er in seinem Kopf einen Text formuliert.
Auf dem Rückweg — eine Stahltreppe zu dem seebreiten Fluss hinunter — erkläre ich meinen Kumpels, dass ich jetzt für ihn arbeite, weil ich seine Gedanken lesen kann. Sie schauen zu ihm hoch und sehen nur seinen Schatten, der hinter der wuchtigen Balustradenbrüstung des Altans hin und her wandert. Ich erkläre ihnen, dass er immer so arbeitet, obwohl es nicht so aussieht. Er denkt, arbeitet im Kopf. Nie mit Stift und Papier, schon gar nicht mit Computern, die es für ihn noch gar nicht gibt. Ich helfe ihm, die Stadt zu sortieren, aus den leerstehenden Gebäuden Jugendzentren, Hotels, besetzte Häuser zu machen. Von wem besetzt?, wollen sie wissen.
Warum ist es denn in Berlin so spießig?, frage ich zurück. Nicht so gedankenkünstlerisch wie in London oder New York oder Turin. Ich war noch nie in Turin, egal, denke ich im Traum und London ist lückenlos festgezurrt, denke ich. Und die Highline mittlerweile schon wieder unerträglich, denke ich. Aber ich weiß, was ich meine, denke ich, als wir am geschwungenen Rand eines großen offenen Restaurants in einer Mall entlanggehen. Stahlrohrtische, Eisdielenlook, künstliche Beleuchtung, künstliche Pflanzen berieselt von einem künstlichen Wasserfall. Alles ist leer, aber wir bekommen trotzdem keinen Tisch.
Ach schau her, hier verkaufen sie auch so Bastelzeugs und Perlen.
Ein angefettelter Wirt mit speckigem Hemdkragen will, dass wir weitergehen, überlegt es sich anders, wir sollen warten, er hat gleich einen Tisch für uns. Wir wollen aber in dem spießigen, sonnenlichtlosen Ding gar nichts essen. Plötzlich habe ich einen nackten Oberkörper. Der Wirt haut mir auf den Arm. Ja, ja mir ist auch oft warm.
Er hat tatsächlich hochgekrempelte Hemdsärmel. Ich merke, dass er nur meine Tattoos auschecken wollte. Oder bilde ich mir das ein? Doch da wird er schon aggressiv, weil ich keine habe. Will uns rauswerfen. Ist auf einem Pferd hinter uns her. Wir gehen langsam Richtung Straße. Er ist zufrieden, sogar freundlich. Hält sein Pferd an. Wir gehen ruhig weiter. Sind schon einige hundert Meter gegangen, als etwas hinter uns über den Boden schliddert. Ein Tier? Da glitscht noch etwas hinter einer Ecke über die glatten Bodenfliesen direkt unter meinen Schuh. Ein dicker Spritzkäsewürfel. Ich kann nicht mehr ausweichen. Trete ihn platt.
Jetzt verstehe ich auch, was er meinte, als er auf dem Pferd immer wieder den Gedanken dachte: Alles Mögliche soll ihnen in den Weg geschleudert werden. Jetzt regt er sich auf wegen des zertretenen Käses und dem Dreck auf den Bodenfliesen. In seinem Kopf höre ich aber sehr undeutlich etwas anderes und er verfolgt uns auch nicht weiter auf seinem Pferd. Wir kommen am Tor an. Es führt in eine weite Landschaft. Hinter mir eine Käseschmatzspur von meinen Sohlen.
Ich laufe die Böschung herunter an eine breite Straße. Versuche den Käse von den Schuhen zu wischen. Ein paar Meter weiter links sind hohe Leitplanken, weil die Straße dort über einen reißenden Fluss führt. Auf der Straßenmitte schaue ich nach rechts, muss wegen der vielen Autos kurz warten, gehe dann aber doch einfach weiter. Ein kleiner roter Wagen mit einer Frau am Steuer muss einlenken, kann knapp ausweichen. Hupt. Sie schimpft. Ich schimpfe. Versuche auf das Dach zu schlagen, der Wagen ist aber schon zu weit weg.
Ich höre aus ihrem Kopf, wie sie sich freut, ihre Aufgabe so gut gemeistert zu haben. Welche Aufgabe? Mich nicht umzufahren?
Als ich auf der anderen Straßenseite ankomme, schaue ich mich um. Neben mir rauscht der Fluss. Meine Kumpels, von denen ich übrigens keinen kenne, sind nicht zu sehen.
Unter der Brücke ist gerade eine angeschwemmte Leiche gefunden worden. Hat sich einer meiner Kumpel umgebracht, oder ist er ermordet worden? Oder ist es jemand ganz anderes?
Ich erfahre oder weiß plötzlich, dass mehrere Menschen in dem Hotel umgebracht worden sind. Der Sänger, Caruso vielleicht, eine Tänzerin, Gäste?, und noch einige andere. Mir wird plötzlich klar, dass das alles ein Komplott ist, um uns oder mir die Morde in die Schuhe zu schieben. In die Schuhe. Wortwörtlich. Mit der Spritzkäsefalle. Lächerlich.
Mir fällt auf, dass ich extrem dünn bin. Ziehe meine Jeans über die dünne Strickjacke hoch bis zum Solar Plexus. Aber da ist alles ruhig.
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