Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)
#39 Der Stuhl
Ich bin der König …
und der König fährt mit seiner pferdelosen Kutsche durch das rostrote Schiebetor in die Autowerkstatt. Die Kutsche hat anscheinend einen Motor, an dem es hapert.
Im Hintergrund wird geschweißt. Blaue Schatten flackern über die Wand. An der Seite beugt sich jemand in den Motorraum eines Cadillacs. Ist das ein Filmset oder eine Werkstatt? Es sieht aus wie die Werkstatt von Keith Scott. Der König zweifelt einen Moment. Dann steigt er vom Kutschbock. Zieht das Lenkrad von der Stange und setzt es sich als Krone auf, damit man ihn gleichzeitig als König und als Werkstattkunde erkennt. Ein Monteur liegt auf einem Rollbrett unter einem Wagen. Von ihm sind nur die Beine in schweren Arbeitsschuhen zu sehen. Jetzt schiebt er sich mit Schwung unter dem Auto hervor. Steht auf und wischt sich die ölverschmierten Hände an einem Lappen ab, der am Gürtel seiner Hose hängt. Wieder eine Filmgeste.
Er greift hinter sich. Die Werkstatt ist jetzt eher ein Café . Er schwingt einen alten Arne Jacobsen Stuhl, über dessen Lehne eine blaue Arbeitsjacke hängt, nach vorn. Nimmt die Jacke ab, zieht sie sich über und bietet mir, dem König den Stuhl an, als Ersatz für die Zeit, in der die Kutsche in der Werkstatt bleiben muss. Nicht etwa, um mich darauf zu setzen, einen Kaffee zu trinken, während ich warte, sondern um darauf nach Hause zu fahren. Als Ersatzfahrzeug.
Es ist dunkel.
Und ich beobachte mich weit von oben. Da unten, tief unter mir rase ich mit dem Stuhl über die Autobahn. Ich sehe, dass der Stuhl zwar mit dem Tempo des Verkehrs mithält, aber auch, dass ich lieber auf der Standspur bleibe. Der Stuhl hat schließlich kein Rücklicht, auch kein Fahrlicht oder Fernlicht. Trotzdem sehe ich gut. Jetzt blicke ich nämlich gleichzeitig als Fahrer, — immer noch der König — auf die Fahrbahn und spüre den Fahrtwind im Gesicht und in meinen langen Haaren. Von den anderen, den Autofahrern, werde ich überhaupt nicht wahrgenommen. Wie auch? Der Königsmantel flattert um mich herum. Der Stuhl lässt sich leicht lenken. Durch ganz einfache Gewichtsverlagerung. Ob die nötig sind, weiß ich gar nicht, vielleicht reagiert er auch auf Gedanken, oder kennt den Weg von allein. Sicherheitshalber bleibe ich bei den leichten Gewichtsverlagerungen und lege mich sanft in die langen Kurven.
Da vorne, das gelbe Lichtergeblitze einer Baustelle, ich bleibe rechts der Baken auf der Standspur. Sie biegt immer weiter von der Straße ab, führt in einen Wald hinein, wird schmutziger, schlammiger, bis sie ganz aufhört in einer riesigen, lehmigen Baustelle, Baugrube, Erdhügel, Schotter, Lehm, Pfützen, Betonmischer, Planierraupen. Alles spärlich beleuchtet. Der Stuhl stockt. Schmatzt. Bleibt dann im nassen Lehm stecken. Sind hier Leute? Bauarbeiter? Irgendetwas rennt geduckt in ein paar Metern Entfernung von hinten an mir vorbei. Da noch etwas, und noch etwas. Es läuft auf einen Bauwagen zu. Die Tür geht auf und in dem Bauwagenlicht erkenne ich, dass es kleine Schweine oder große Ferkel sind, die da laufen. Sie springen die paar Stufen hoch, verschwinden im Bauwagen. Bevor der Mann die Tür schließt, bemerkt er mich. Er kommt auf mich zu.
Wie hast du dich hierher verirrt? Hier kommst du nur durch den Materialschacht wieder raus.
Er will gleich mit mir los, dann hilft er mir aber, den Stuhl aus dem Schlamm zu ziehen. Ich schwinge mir den Stuhl über die Schulter. Es ist jetzt ein Caféhausstuhl, ein Thonet Bugholzstuhl und er lässt sich sehr leicht tragen.
Der Fahrstuhl im Materialschacht ist ein gelber Stahlzylinder von vielleicht fünf Meter Durchmesser und drei Meter Höhe. Eine Art Türöffnung fährt automatisch zur Seite. Etwas Licht fällt von außen in den Zylinder, läßt ihn auch innen gelb erscheinen. Ansonsten ist es dunkel da drinnen. Keine Beleuchtung, keine Schalttafel, keine Lüftung, keine Notruftaste. Eine gigantische, hermetisch abgeschlossene Stahldose. Da soll ich rein?
Er nickt. Schaut mich an. Das ist der einzige Weg hier raus. Steig ein oder steig nicht ein, ist mit egal. Kannst auch hierbleiben, in deinem Stuhl wohnen.
Wie lange, fährt dieser Fahrstuhl? Wie weiß ich, ob er überhaupt fährt?
Das ist ein Materialkorb, da wirst du zusammengedrückt, wenn der losfährt. Merkst du dann schon. Und wenn du nach anderthalb Minuten nicht oben bist, ist er steckengeblieben. Kommt selten von.
Anderthalb Minuten, wie hoch fährt er denn?
Na, bis an die Oberfläche, bis an die Luft. Gut zwölf Kilometer.
Ich werfe den Stuhl in den Fahrstuhl. Ich weiß nicht, ob ich eingestiegen bin, vor dem Aufwachen.
No Comments