Rezension

„Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Laestadius

10. Oktober 2022
Rezension Birgit Birnbacher
„Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Laestadius

Das Leuchten der Rentiere von Anne-Helén Laestadius„Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Laestadius hat mich als allererstes durch sein Cover angesprochen.Und ich liebe Bücher aus dem Norden. Die karge und klare Sprache der nordischen Literatur – Sjón, Merethe Lindstrøm, Astrid Lindgren, Jon Fosse – also nicht unbedingt die nordischen Krimiautor:innen, auch wenn ich – zum Beispiel – Jo Nesbø gerne lese.

Das Leuchten der Rentiere ist eine Mischung aus einem Roman, einem Krimi und einer sehr persönlichen/biografischen Erinnerung der Autorin. Und obwohl ich Genremix und literarische Experimente gut finde, liegt hier vielleicht schon die Schwierigkeit, die ich mit diesem Roman hatte. Er will sehr viel und er fiel daher etwas auseinander.
Doch sobald ich meine Leseerwartung neu ausgerichtet hatte, wurde das Buch etwas anderes. Nicht so sehr belletristische Lektüre, sondern die emotionale und gleichzeitig kritische Schilderung der Welt der Samen.

Die Samen (veraltet Lappen) sind ein indigenes Volk im Norden Fennoskandinaviens. Ihr heutiges Siedlungsgebiet, Sápmi, erstreckt sich von der Gemeinde Idre in der Provinz Dalarnas län im Süden über die nördlichen Teile Schwedens, Norwegens, Finnlands. (…)  Die samischen Sprachen gehören zur Familie der uralischen Sprachen. Die Samen sind in allen vier Ländern als Urvolk anerkannt (in Russland zählen sie zur Gruppe der indigenen kleinen Völker des Nordens), aber allein Norwegen stellt sie unter den Schutz der internationalen ILO Konvention 169. (Quelle)

Die Handlung

Es ist die Geschichte von Elsa, einer Samin. Und sie beginnt, als Elsas nein Jahre alt ist, ihr Rentier getötet wird und sie den Täter erkennt, der sie daraufhin bedroht. Elsa schweigt und leidet zunehmend unter ihrem Geheimnis, denn es ist noch nicht vorbei mit den Morden an den Rentieren, die von der Polizei nur als gestohlen vermerkt werden, statt sie als das anzuerkennende was sie sind: Angriffe auf eine Minderheit und der Versuch, die Rentierzucht der Samen zu sabotieren. Elsa wird im Laufe der Geschichte erwachsen und emanzipiert sich auch von den strengen Regeln ihres Volkes. Schließlich findet sie die Kraft, mit dem Täter abzurechnen.

Die Geschichte wird langsam erzählt und am Anfang aus der Perspektive der Neunjährigen, was ich schwierig fand. Da Elsa mit neun noch nicht so viele Einblicke in das Leben der Eltern hat, die Autorin uns das Leben der Samen aber nahe bringen wollte, wirken einige Passagen altklug und arg konstruiert. Die Sprache ist zum Teil die eines Kinderbuches, dann wieder derbe. Manchmal wechselt die Perspektive überraschend.

Bei über 80 Kapiteln, deren Tempo nach dem ersten stark abnimmt, muss man in einen anderen Lesegang schalten. Sich einlassen auf die Schilderung und Beschreibung eines Lebens, dass sehr archaisches ist, aber gleichzeitig mit den Regeln der schwedischen Gesellschaft in Einklang gebracht werden muss. Man spürt, dass die Samen, die früher ein ziehende Volk waren, eine Unruhe in sich tragen, die sie nun durch ständige Fahrten mit dem Schneemobil zu den Rentiergehegen ausleben. Das heißt, die Männer fahren – die Frauen nähen an Kolts.

Die traditionelle Bekleidung der Sami besteht aus Lederschuhen mit hochgezogener Spitze, bunten Schuhbändern, Lederhose, dem Kolt (nordsamisch gákti) – ein kittelähnliches Oberteil mit Schößchen –, einem Brustschmuck oder Halstuch und einer Mütze. Vor allem an der Machart des Koltes und der Mütze lässt sich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gegend erkennen. Der älteste Koltfund ist rund 6.000 Jahre alt. (Quelle)

Anne-Helen Laestadius
Das Leuchten der Rentiere

Ann-Helén Laestadius (2019)

Laestadius stammt aus einer mehrkulturellen samischtornedalfinnischen Familie in Nordschweden. Sie spricht und schreibt in Schwedisch, hat aber viele sämische Begriffe in das Buch eingebracht, die in einem angehängten Glossar erklärt werden.

Laestadius hat 1990 angefangen als Journalistin zu arbeiten und über sprachliche und kulturelle Diversität in Schweden zu schreiben. Man spürt, dass ihr das Thema wichtig ist und sie es uns emotional nahe bringen möchte. Gleichzeitig – und das mochte ich – verklärt sie die Samen nicht und hat einen kritischen Blick auf die teils sehr rückschrittlichen Ansichten und Hierarchien in den Familien.

2007 veröffentlichte Laestadius ihren ersten Jugendroman. Es folgten weitere Jugendromane und Kinderbücher. Das Leuchten der Rentiere (Stöld – dt. Diebstahl) ist ihr erster Roman für Erwachsene, erschien 2021 in Schweden und war ein großer Erfolg, ein Bestseller und Buch des Jahres 2021. Ich denke, dass dieses Buch für die nordische Kultur und Gesellschaft wichtig ist. Vielleicht sogar überfällig. Man kann aber auch viele Parallelen zu zu Minderheiten in anderen Gesellschaften ziehen, was den Roman über Schweden hinaus interessant und lesenswert macht.

Übersetzung

Das Leuchten der Rentiere ist von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt übersetzt worden.

Maike Barth hat Skandinavistik studiert. Nach langjähriger Tätigkeit als Redakteurin für Buchverlage übersetzt sie seit 2015 vorwiegend Belletristik und Sachbücher aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen. Dagmar Mißfeldt ist Skandinavistin und Übersetzerin aus dem Schwedischen, Dänischen, Norwegischen und Finnischen. Sie übersetzt zudem für Fernseh- und Kinoproduktionen. Sie lehrt seit 1997 Schwedisch an der Leuphana Universität Lüneburg und ist dort seit 2009 als Lektorin und Koordinatorin des Faches Schwedisch tätig.
Beides sind erfahrene und ausgezeichnete Übersetzerinnen. Trotzdem hatte ich Schwierigkeiten mit der Übersetzung. Ich fand die starken Schwankungen im Ton des Textes von kindlich naiv bis zu gestelzt irritierend.

Dieser Mix zieht sich durch das Buch, das aus der 3. Person erzählt wird. Hier hätte ich mir einen einheitlichen Erzählstil, der sich den Personen nicht anpasst, sondern einen eigenen Sound aufrecht hält, gewünscht.

Sprechen &  Sprache

Doch ich sage gleich einschränkend, dass ich kein Schwedisch spreche und es vermutlich Vorgaben des Ursprungstextes gab, die für die Übersetzerinnen nicht so einfach zu lösen waren. Ich wäre daher gerne bei der der Veranstaltung zum Gläsernen Übersetzen mit beiden Autorinnen 2019 in Hamburg dabei gewesen.

Hier ein Zitat aus dem Veranstaltungstext, dem ich sehr zustimme.

Gehen, bummeln, stapfen, trotten, wandeln, latschen, huschen oder flanieren – all dies wären, je nach Kontext, mögliche Übersetzungen fürs norwegische »gå«. Und schon wird offenbar, dass jeder Übersetzung stets eine Textinterpretation zugrunde liegt. Dennoch wird die handwerkliche und künstlerische Leistung literarischer Übersetzungen leicht übersehen, obwohl wir es den Übersetzerinnen und Übersetzern zu verdanken haben, den Text überhaupt aufnehmen zu können.

Fazit
Protest samischer Rentierhüter in Jokkmokk, Schweden, gegen zu geringe Ersatzleistungen beim Verlust von Rentieren durch Raubtiere

Protest samischer Rentierhüter in Jokkmokk, Schweden, gegen zu geringe Ersatzleistungen beim Verlust von Rentieren durch Raubtiere. Quelle: Ökologix

Das Leuchten der Rentiere ist ein Buch, das entschleunigt und mit dem man sich auf das Leben der Samen, des letzten indigenen Volkes Europas, einschwingt. Es ist weder ein Krimi, noch eine biografische Erzählung, trägt aber Spuren dieser Erzählweisen und ist daher ein interessanter Mix. In einem langsamen Erzähltempo, auf das man sich einlassen sollte, kann man nicht nur über das Leben der Samen und ihrer Probleme erfahren, sondern auch die Emanzipation der Heldin Elsa über die Jahre aus den eingefahrenen Strukturen ihres Volkes erleben.

Anpassung an die Umgebung ist häufig mit einem Verlust verbunden, der die Eigenheiten verschwinden lässt. Dies ist eine globale Herausforderung für alle (indigenen) Völker. Und ebenso eine Herausforderung für den Fortschritt und das Leben auf diesem Planeten.

Wir alle spüren, dass Fortschritt nicht länger ein Ziel sein kann, wenn unser Lebensraum zunehmend unter diesem Fortschritt leidet. Hier leisten die Autorin und das Buch einen wichtigen Beitrag zur Diskussion.

„Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Laestadius
Übersetzerinnen: Maike Barth & Dagmar Mißfeldt
Hoffmann & Campe, Hamburg 2022

448 Seiten

Digitales Rezensionsexemplar über Netgalley.

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