„Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Laestadius
„Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Laestadius hat mich als allererstes durch sein Cover angesprochen.Und ich liebe Bücher aus dem Norden. Die karge und klare Sprache der nordischen Literatur – Sjón, Merethe Lindstrøm, Astrid Lindgren, Jon Fosse – also nicht unbedingt die nordischen Krimiautor:innen, auch wenn ich – zum Beispiel – Jo Nesbø gerne lese.
Das Leuchten der Rentiere ist eine Mischung aus einem Roman, einem Krimi und einer sehr persönlichen/biografischen Erinnerung der Autorin. Und obwohl ich Genremix und literarische Experimente gut finde, liegt hier vielleicht schon die Schwierigkeit, die ich mit diesem Roman hatte. Er will sehr viel und er fiel daher etwas auseinander.
Doch sobald ich meine Leseerwartung neu ausgerichtet hatte, wurde das Buch etwas anderes. Nicht so sehr belletristische Lektüre, sondern die emotionale und gleichzeitig kritische Schilderung der Welt der Samen.
Die Samen (veraltet Lappen) sind ein indigenes Volk im Norden Fennoskandinaviens. Ihr heutiges Siedlungsgebiet, Sápmi, erstreckt sich von der Gemeinde Idre in der Provinz Dalarnas län im Süden über die nördlichen Teile Schwedens, Norwegens, Finnlands. (…) Die samischen Sprachen gehören zur Familie der uralischen Sprachen. Die Samen sind in allen vier Ländern als Urvolk anerkannt (in Russland zählen sie zur Gruppe der indigenen kleinen Völker des Nordens), aber allein Norwegen stellt sie unter den Schutz der internationalen ILO Konvention 169. (Quelle)
Die Handlung
Es ist die Geschichte von Elsa, einer Samin. Und sie beginnt, als Elsas nein Jahre alt ist, ihr Rentier getötet wird und sie den Täter erkennt, der sie daraufhin bedroht. Elsa schweigt und leidet zunehmend unter ihrem Geheimnis, denn es ist noch nicht vorbei mit den Morden an den Rentieren, die von der Polizei nur als gestohlen vermerkt werden, statt sie als das anzuerkennende was sie sind: Angriffe auf eine Minderheit und der Versuch, die Rentierzucht der Samen zu sabotieren. Elsa wird im Laufe der Geschichte erwachsen und emanzipiert sich auch von den strengen Regeln ihres Volkes. Schließlich findet sie die Kraft, mit dem Täter abzurechnen.
Die Geschichte wird langsam erzählt und am Anfang aus der Perspektive der Neunjährigen, was ich schwierig fand. Da Elsa mit neun noch nicht so viele Einblicke in das Leben der Eltern hat, die Autorin uns das Leben der Samen aber nahe bringen wollte, wirken einige Passagen altklug und arg konstruiert. Die Sprache ist zum Teil die eines Kinderbuches, dann wieder derbe. Manchmal wechselt die Perspektive überraschend.
Bei über 80 Kapiteln, deren Tempo nach dem ersten stark abnimmt, muss man in einen anderen Lesegang schalten. Sich einlassen auf die Schilderung und Beschreibung eines Lebens, dass sehr archaisches ist, aber gleichzeitig mit den Regeln der schwedischen Gesellschaft in Einklang gebracht werden muss. Man spürt, dass die Samen, die früher ein ziehende Volk waren, eine Unruhe in sich tragen, die sie nun durch ständige Fahrten mit dem Schneemobil zu den Rentiergehegen ausleben. Das heißt, die Männer fahren – die Frauen nähen an Kolts.
Die traditionelle Bekleidung der Sami besteht aus Lederschuhen mit hochgezogener Spitze, bunten Schuhbändern, Lederhose, dem Kolt (nordsamisch gákti) – ein kittelähnliches Oberteil mit Schößchen –, einem Brustschmuck oder Halstuch und einer Mütze. Vor allem an der Machart des Koltes und der Mütze lässt sich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gegend erkennen. Der älteste Koltfund ist rund 6.000 Jahre alt. (Quelle)
Anne-Helen Laestadius
Laestadius stammt aus einer mehrkulturellen samisch–tornedalfinnischen Familie in Nordschweden. Sie spricht und schreibt in Schwedisch, hat aber viele sämische Begriffe in das Buch eingebracht, die in einem angehängten Glossar erklärt werden.
Laestadius hat 1990 angefangen als Journalistin zu arbeiten und über sprachliche und kulturelle Diversität in Schweden zu schreiben. Man spürt, dass ihr das Thema wichtig ist und sie es uns emotional nahe bringen möchte. Gleichzeitig – und das mochte ich – verklärt sie die Samen nicht und hat einen kritischen Blick auf die teils sehr rückschrittlichen Ansichten und Hierarchien in den Familien.
2007 veröffentlichte Laestadius ihren ersten Jugendroman. Es folgten weitere Jugendromane und Kinderbücher. Das Leuchten der Rentiere (Stöld – dt. Diebstahl) ist ihr erster Roman für Erwachsene, erschien 2021 in Schweden und war ein großer Erfolg, ein Bestseller und Buch des Jahres 2021. Ich denke, dass dieses Buch für die nordische Kultur und Gesellschaft wichtig ist. Vielleicht sogar überfällig. Man kann aber auch viele Parallelen zu zu Minderheiten in anderen Gesellschaften ziehen, was den Roman über Schweden hinaus interessant und lesenswert macht.
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