„Wovon wir leben“ von Birgit Birnbacher
Ich möchte es gleich am Anfang sage: „Wovon wir leben“ von Birgit Birnbacher hat mich absolut begeistert. Sprache, Erzählabsicht, Thema, Dramaturgie und Flow – alles hat gestimmt. Klar, ist das Thema bedrückend: Arbeitslosigkeit, Krankheit, ein Scheitern, die Rückkehr der verlorenen Tochter in den Albtraum der Enge ihres Elternhauses. Und vermutlich hätte ich das Buch weggelegt, wenn Birgit Birnbacher dies alles mit Distanz erzählt hätte. Ausgedacht, um uns alle auf etwas aufmerksam zu machen: Den Missstand des Pflegewesens, in den Krankenhäusern, der Überlastung von Frauen in Pflegesituationen, die psychischen Belastungen bei Arbeitslosigkeit. Und, ja, sie macht auf das alles aufmerksam, aber auf eine Weise, die mich spüren ließ, dass es sie etwas angeht. Sie mittendrin steckt (was sie offensichtlich, als erfolgreiche Autorin nicht tut).
Birnbacher brach früh die Schule ab, machte zunächst eine Lehre, ging dann für eine Weile in die Entwicklungshilfe nach Äthiopien und Indien. Später holte sie ihre Matura nach und studierte Soziologie und Sozialwissenschaften. Sie arbeitete bis 2018 als Sozialarbeiterin und Soziologin in der Gemeinwesen- und Quartiersarbeit. Zeitgleich begann sie, literarisch zu schreiben und seit 2012 auch zu veröffentlichen.[Quelle]
Es ist selten, dass jemand mit einem so großen Schwerpunkt im Machen, im Tun, im Helfen, irgendwann die Kraft findet, das alles in Worte zu fassen. Damit fällt sie für mich aus dem üblichen Literaturbetrieb vollkommen heraus und ist gleichzeitig ein großer Gewinn. Wenn ich sage, sie fällt aus dem Literaturbetrieb heraus meine ich nicht all die Anerkennungen und Preise, die sie wohl verdient bekommen hat, sondern die Möglichkeit sich ihren Themen mit dem Hintergrund von gelebtem Leben zu nähern. Nicht vom Literaturstudium, über Stipendien, Aufenthalte in Literaturhäusern zu einem gut recherchierten Thema, das gerade angesagt ist. Man spürt, da ist mehr. Da sind die kleinen Momente extrem gut in Worte gefasst, auch, weil sie nicht nur recherchiert oder beobachtet wurden, sondern gelebt wurden.
Das ist so selten und macht einen so großen Unterschied, dass ich auch die unangenehmsten und bedrückendsten Szenen lesen konnte. Das große Mitgefühl mit den Protagonisten, egal wie verschroben oder starrköpfig, die abgestumpften Orte und Menschen, das alles wird hell, ohne, dass es kitschig ist, romantisiert wird oder etwas geschönt würde.
Sprache
Er hat so etwas Aufgewecktes, Batteriebetriebenes. Er hat eine mordsmäßige Energie, mit der er diesen langen , großen Körper in Bewegung setzt. ( Pos. 750)
Birgit Birnabacher hat ein vollkommen befreites Verhältnis zu der Sprache, die sie benutzt. Was gerade „herumliegt“, gefühlt wird, kann benutzt werden, wird verbaut und so entstehen Sätze, die man noch nie vorher so gelesen hat, weil sie Birnbachersätze sind. Sofort, eindeutig, ihre Sprache, die sie für uns erfunden hat, um uns in ihre Welt zu führen. Österreichisch, manchmal behäbig, dann wieder nervös zittrig. Und die Vergleiche (die mir bei den meisten Autor:innen extrem auf die Nerven gehen) haben diesen leisen Humor, der sich nicht aufdrängt.
„Bea!“, sage ich wieder, sie sieht meine Freude. Bei war immer so anders Bei ist Architektin geworden. Bei ist winterhart. Bei blüht ganzjährig, etwas an ihr trotzt immer noch dem wachstumsfeindlichen Klima hier. (Pos. 810)
Ich sagę es wieder: Ich bin begeistert.
Die Autorin
Eigentlich schade, dass der Verlag verschweigt, was diese Autorin ausmacht. Aber, okay, man findet es auf Wikipedia und wenn man genau hinsieht, natürlich auch im Text. Denn was sie schreibt ist gar nicht möglich, ohne dieses Wissen des gelebten Lebens.
Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman Wir ohne Wal (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. (Hanser)
Fazit
Ein Buch, das ich jedem empfehle. Und gerade denjenigen, die der Meinung sind, ihre Leben wäre dort nicht gut untergebracht, zwischen Buchseiten, in einem Roman. Ein Lesegenuss, weil die Sprache neu und frisch und einzigartig ist, die Gedanken klar und präzise sind und die Geschichte eine große Wärme ausstrahlt, ohne jemals kitschig oder sentimental zu werden.
„Wovon wir leben“ von Birgit Birnbacher
- Erscheinungsdatum: 20.02.2023
- 192 Seiten
- Zsolnay/Hanser
No Comments