Rezension

„Siegfried“ von Antonia Baum

12. April 2023
„Siegfried“ von Antonia Baum

"Siegfried" von Antonia BaumSiegfried von Antonia Baum. Ich habe selten einen Roman gelesen, bei dem die Inhaltsangabe des Verlags so weit von dem abgewichen wäre, was im Roman erzählt wird. Vielleicht, weil der Roman keine eindeutige Struktur aufweist und sich daher auch schlecht in einen griffigen Blurb verwandeln lässt. Und dies ist sicher Absicht, denn mit wohl geordneten Sätzen lässt sich Chaos nicht beschreiben.

„Eine Frau – Mutter, Partnerin, Versorgerin – fährt eines Morgens nicht zur Arbeit, sondern in die Psychiatrie. Am Abend hat sie sich mit ihrem Partner gestritten, vielleicht ist etwas zerbrochen, jetzt muss sie den Tag beginnen, sie muss die Tochter anziehen, an alles denken, in der Wohnung und ihrem Leben aufräumen. Doch sie hat Angst: das Geld, die Deadline, die Beziehung, nichts ist unter Kontrolle, und vor allem ist da die Angst um ihren Stiefvater, der früher die Welt für sie geordnet und ihr einen Platz darin zugewiesen hat. In der Psychiatrie, denkt sie, wird jemand sein, der ihr sagt, wie ihr Problem heißt. Dort darf sie sich ausruhen.“ (Ullstein Verlag)

Die Frau ist – keine Versorgerin. Gleich am Anfang wird erzählt, dass sie diesen Job nicht wirklich erfüllt und ihn sich zudem mit dem Partner teilt. Zur Arbeit fahren? Sie ist eine freie Schriftstellerin, die nirgendwo hinfahren muss – weil alles sich auch telefonisch erledigen ließe. Okay, für den Sex mit dem Lektor muss man schon vor Ort sein. Was die Situation eher noch verschärft. Der Streit ist nicht wirklich ein Streit, sondern die Eröffnung der Frau, dass sie fremdgegangen ist oder wertfreier gesagt: Sex mit dem Exfreund und derzeitigen Lektor hatte. Also ein Vertrauensbruch dem Partner gegenüber. Sie hat Angst? Nichts ist unter Kontrolle? Vielleicht könnte man auch sagen, sie ist auf einer Suizide-Mission. Beziehung zerstören, Arbeit nicht erledigen, Rechnungen nicht bezahlen., Kind vernachlässigen. Die Psychiatrie ein Versuch, etwas von aussen zu fixen, was von innen zerstört wurde. Das Selbstvertrauen. Die Liebe. Die Beziehung.

Den Männern gewidmet

Was macht man, wenn man schon nach den ersten Seiten weder Mitleid noch Verständnis für die Protagonistin hat? Man wartet, ob sich das noch ändert. Versucht, seine Einstellung zu verändern. Gleich vorweg – mir ist das nicht gelungen. Vielleicht bin ich zu progressiv erzogen, mit einer Mutter, die mir Emanzipation beigebracht hat. Für mich war es schwer erträglich, dass es in diesem Roman nur um Männer ging. Und wenn eine Frau eine größere Rolle spielt – die Mutter von Siegfried – dann ist sie auf einen Mann, ihren Sohn, fixiert. Siegfried ist der Retter in der finanziellen Situation, der Übervater und richtige Mann, während der Partner, Alex, zum Loser erklärt wird. Er wird betrogen, aber um Siegfried sorgt sie sich. Und um dem Lektor. Da er vielleicht auch etwas fixen kann, geht sie mit ihm ins Bett. So machen das Frauen – doch eigentlich nicht mehr?

Häufig fällt im Zusammenhang mit dem Roman ein Schlagwort: Mental Load. Ein sehr wichtiger Begriff im Zusammenhang mit häuslicher Arbeit. Weil es für „Hausfrauen/männer “ keine Feierabend gibt und weder Bezahlung noch entsprechende Anerkennung. Dieses Thema ist wichtig und ich bin froh, dass es jetzt auch in der Literatur immer öfter angesprochen und bearbeitet wird. Logisch – meist von Frauen. Wobei es mit der wachsenden Zahl von Hausmännern eben nicht nur ein Frauenthema ist, sondern ein Grundsätzliches.

Mental Load (deutsch etwa psychische Belastung) bezeichnet im deutschen Sprachraum vorrangig die Belastung, die durch das Organisieren von Alltagsaufgaben entsteht, die gemeinhin als nicht der Rede wert erachtet werden und somit weitgehend unsichtbar sind. (Wiki)

Mental Load

Wie sieht dieser Mental Load in „Siegfried“ aus?

In fünfundvierzig Minuten würde ich den Tisch decken, Frühstück machen, die Tasche packen, die Waschmaschine füllen. Meine Liste für den Tag schreiben und dann Johnny wecken, ihr beim Anziehen helfen, ihre Zöpfe flechten, später unbedingt Persil kaufen.

Das scheint eine banale Liste zu sein, zumal der Mann das Kind zur Schule bringt und die Liste eher unwichtig zu sein schient. Das Interessante ist, dass es egal ist, wie lang oder kurz die Liste ist, weil das Gefühl des Overloads subjektiv ist. Das ist wichtig und gut dargestellt. Ähnlich wie Depressive, die nicht in der Lage sind, sich aus dem Bett zu erheben, geht es nicht um die Art der Belastung, sondern darum, wie man sie empfindet. Selbst Kleinigkeiten werden unter Stress und großer psychischer Belastung zu viel. Das ist wichtig zu verstehen.

Daher hätte ich mir mehr Einsichten in die Psyche der Protagonistin gewünscht. Mehr Selbstreflexion. Auch – mehr Selbstkritik. Stattdessen geht es endlos um – andere. Die Eltern des Mannes, den Mann, den Stiefvater, die Mutter von Siegfried um Siegfried. Klar, die Eltern sind nicht perfekt und haben Kollateralschäden bei der Kindergeneration hinterlassen. Wie die meisten Eltern, weil die Gesellschaft mit erzieht, weil wir in keiner idealen Welt leben, weil wir mittlerweile wissen, das Schuld sogar auf den Genen sitzt.

Schuld zuzuweisen – ist vielleicht der erste Impuls, wenn man selbst nicht weiterkommt. Sich dem Leben zu entziehen – ein weiterer Weg: Oder eben eine Katastrophe heraufzubeschwören. So gesehen erzählt der Roman glaubhaft eine Notsituation. Wer sich hier wiedererkannt, für die ist der Roman ein Gewinn, bietet Identifikationsmöglichkeiten und Reflexionsraum.

Sprache und Stil

Antonia Baum hat einen versierten Schreibstil. Die Handlung wird in einem assoziativen Sog erzählt, findet für mich jedoch keinen einheitlichen Rhythmus. Mir waren die Einschübe, in denen sehr langatmig über andere erzählt wurde zu lang und haben den Fokus von der Situation der Protagonistin und der zu erzählenden Geschichte genommen. Aber … braucht ein Buch, das eine Auflösung und zunehmende Verwirrung der Hauptfigur schildern will nicht genau dieses Chaos der Gedanken und Assoziationen? Möglich. Schade, dass mich das Buch hier verloren hat.

Die Autorin

Antonia Baum, geboren 1984, ist Schriftstellerin und Autorin für DIE ZEIT. Ihre journalistischen Arbeiten beschäftigen sich vor allem mit Literatur, Feminismus, Rap und Gesellschaftspolitik.

Fazit

Ein für mich überrascht konservatives Buch mit einem wichtigen Thema, das ich gerne klarer und prägnanter erkannt hätte.

„Siegfried“ von Antonia Baum
  • Verlag Claassen
  • Einbandart Hardcover mit Schutzumschlag
  • Seitenanzahl 256 Seiten
  • ISBN9783546100274
  • Erscheinungstag: 23.02.2023

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