Rezension

„Das Lied der Zelle“ von Siddharta Mukherjee

10. Mai 2023
„Das Lied der Zelle“ von Siddharta Mukherjee

„Das Lied der Zelle“ von Siddharta Mukherjee. Es gibt Menschen, die scheinen etwas Übermenschliches an sich zu haben. Siddharta Mukherjee scheint so ein Mensch zu sein. Forscher, Arzt, Buchautor und das alles auf höchstem Niveau.

Als im späten 16. Jahrhundert der englische Universalgelehrte Robert Hooke und der holländische Tuchhändler Antonie van Leeuwenhoek durch ihre handgefertigten Mikroskope blickten, sahen sie etwas, was der Biologie und der Medizin ein radikal neues Konzept hinzufügte und beide Wissenschaften für immer veränderte: Komplexe lebende Organismen bestehen aus winzigen, in sich geschlossenen und sich selbst regulierenden Einheiten. Unsere Organe, unsere Physiologie, unser Selbst – Herz, Blut, Gehirn – sind aus diesen kleinen Teilen aufgebaut: den Zellen. Sie ermöglichen all unsere komplexen Körperfunktionen: Immunabwehr, Fortpflanzung, Empfindungsvermögen, Kognition und Erneuerung. Die Schattenseite ist die ungemeine Zerstörungskraft dysfunktionaler Zellen, die einen Körper seiner Lebensfähigkeit berauben können.

Mukherjee erzählt vom enormen Potenzial unseres vertieften Verständnisses der Zellphysiologie und -pathologie. Es hat eine Revolution in Biologie und Medizin ausgelöst, transformative Medikamente hervorgebracht und Menschen verändert. (Klappentext Ullstein Verlag)

Das Lied der Zelle
Sein Enthusiasmus schlägt einem aus diesem Buch entgegen. Enthusiasmus für die Wissenschaft, die Wissenschaftler:innen, für seine Arbeit als Arzt, bei der auch immer wieder Rückschläge erleiden muss und für die Leser:innen, denen Mukherjee leidenschaftlich und klar von den Erkenntnissen, die die Menschheit über die Zelle gewonnen hat, erzählt.22 Kapitel sind in 6 Teile zusammengefasst. Dabei knüpft er die Wissenschaftsgeschichte der Zellpathologie immer wieder an die unterschiedlichen Akteur:innen, die mit ihrem Wissensdrang, ihren Fragestellungen, ihrer Ausdauer, ihre Erfindungsgabe, ihren Spleens immer wieder Wissensschübe initiiert haben. Bringt sie einem so nah, als säße man selbst im Labor.

Geschiche der Zelle

Er spannt dabei den Bogen vom 16. Jhd, in dem in selbstgebastelten Mikroskopen erstmals Zellen als eigenständige Organismen beobachtet wurden bis heute, wo wir gewissermaßen in ein technischen Zeitalter der Gen-, Zelltechnik eingetreten sind. Wo Gene ein- und ausgeschaltet werden, um bestimmte Wirkungen im Organismus zu erreichen, wo Rezeptoren verändert werden, um die Kommunikation von Zellen untereinander zu verändern. Und wo wir merken, dass wir dabei nicht nur an ethische, sondern auch an technische Grenzen stoßen, weil offensichtlich die einzelnen Zellen und Zellverbände wesentlich komplexere und vielleicht auch schönere Lieder singen, als wir heut wahrnehmen können. Das letzte Kapitel: „Das Lied der Zelle“ ist dieser Frage gewidmet. Dort heißt es:

Wir haben die Namen der Zellen und auch für Zellsysteme, aber die Lieder der Zellbiologie haben wir noch nicht gelernt. (Lied der Zelle)

Für Mukherjee liegt die Struktur der Zellen, dieser Grundbausteine ​​des Lebens offen. Was in seinen Augen fehlt, sind Erkenntnisse darüber, wie sie sich zueinander verhalten, wie sie interagieren – wie sie miteinander singen. Er hofft, dass wir unsere Fähigkeit, Krankheiten zu behandeln, auf ein neues Niveau heben werden, wenn wir diese Musik lernen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Mukherjee selbst bewusst ist, welch ein Shift in der Wahrnehmung in dieser Musikmetapher (verborgen) liegt. Denn man könnte sein Buch auch lesen als eine Geschichte des Sehens. Von den ersten Mikroskopen mit selbstgegossenen und geschliffenen Glaslinsen bis zu den Elektronenmikroskopen, geht es immer wieder ums Hinschauen, Sichtbarmachen, immer wieder sitzt auch Muckherjee, sowohl als Arzt, als auch als Forscher über seinen Mikroskopen. Mit der Musik käme das Hören, das Zuhören hinzu.

Zellen des Gehirns und Depression

In dem Kapitel über die Zellen des Gehirns bekommt das Buch eine überraschende Wendung. Völlig unerwartet schreibt Mukherjee über seine schweren Depressionen. Für mich nicht nur eins der emotionalsten Kapitel in dem Buch, sondern auch eins der spannendsten. Wer sich mit Depressionen beschäftigt, wird wissen, dass es nicht nur ganz unterschiedliche Schweregrade gibt, sondern dass sie sich auch in einzelnen Menschen ganz unterschiedlich äußern. Die einen werden gleich von Suicidgedanken überschwemmt, andere dämmern vor sich hin, für die einen ist jede kleinste Tätigkeit eine unerträgliche Anstrengung.. Sie können sich nicht bewegen werden kataton, andere funktionieren scheinbar ganz normal und können sogar ihren Beruf als Arzt weiter ausführen und nebenbei ein bestsellerverdächtiges Buch über die Zelle schreiben.

Muckherjee probiert es mit den üblichen Medikamenten Paxil und Prozac, die aber bei ihm keine positive Wirkung hervorrufen. Im November 2021 trifft er sich dann mit Helen Mayberg, die sich darauf spezialisiert hat, Zellen in kleinen, genau lokalisierten Gehirnarealen, die möglicherweise die Gefühlslage regulieren und neuropsychiatrische Erkrankungen beeinflussen mit winzigen Stromstößen zu stimulieren. Dazu wird der Schädel aufgebohrt und eine haarfeine Elektrode an das babyfingergroße Hirnareal platziert. Bei vollem Bewusstsein des Patienten wird dieser Bereich jetzt elektrisch stimuliert.

Interessanterweise will Mayberg beobachtet haben, dass es für den Erfolg der Behandlung eine Rolle spielt, mit welchen Bildern und Metaphern die Patienten ihre Depression beschreiben. Ob sie sich taub, eingesperrt, wie unter Wasser, in ein Loch gestürzt, in einem leeren Raum oder lebendig begraben fühlten. Mayberg ist sich sicher, dass es darauf ankommt bei diesen Schilderungen und Methaphern genau hinzuhören. Dieser Shift vom Sehen zum Hören, von der bloßen Syntax zur Semantik, der in dem Buch nur am Rande erwähnt wird, gehört für mich zu den aufregendsten Passagen des Buchs.

Methapherntheorie

Maybergs Methode ist umstritten und auch ihre »Methapherntheorie« lässt sich natürlich leicht als esoterischer Bogus abtun. Wenn es aber doch offensichtlich so ist, dass unsere Sensorik, unser Empfinden und unser Bewusstsein durch Zellfunktionen aufgebaut und gesteuert wird, muss man nicht auch davon ausgehen, dass dieses Bewusstsein, diese Gefühle und Gedanken in einer Art Rückkopplung Auswirkungen auf die Funktion der Zellen haben?

Ich bin mir sicher, dass Herzinfarktspatienten andere Geschichten erzählen als Menschen, die unter Depressionen leiden. Und dass diese Geschichten auch Auswirkungen auf die Abläufe in den Zellen haben. Leider, oder vielleicht glücklicherweise ist allerdings der Inhalt von Geschichten nicht so leicht messbar, wie physikalische oder biochemische Vorgänge. Deshalb fühlt man sich da so schnell auf unwissenschaftlich schwankendem Boden. Wenn wir aber das Lied der Zelle verstehen wollen, werden wir uns wohl darauf einlassen müssen, der Musik zuzuhören.

Fazit

Ein Buch für Wissenschaft-Freaks, die wissen wollen, wie der Stand der Wissenschaft in Bezug auf die Zellwissenschaft gerade ist. Doch ebenso für uns alle, die wir nur eine ungefähre Vorstellung von den Abläufen in unserem Körper haben Dazu noch ein ausnehmend flüssig und gut geschriebenes Buch. Starke Leseempfehlung

  • Siddharta Mukherjee
  • Das Lied der Zelle, 2023
  • Ullstein Verlag
  • 669 Seiten 
  • Übersetzung: Sebastian Vogel

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