Rezension

„The Shards“ von Bret Easton Ellis

3. Mai 2023
„The Shards“ von Bret Easton Ellis

Ich habe den Weltbestseller „American Psycho“ nie gelesen und auch sonst keines seiner Bücher. Um so erstaunter war ich, dass mir „The Shards“ von Bret Easton Ellis nicht nur gefallen hat, sondern ich begeistert war. Begeistert bin. Das hat unter Umständen sehr viel mit meinem Leben und Erlebnissen zu tun, doch das Buch ist auch ohne eine Vorgeschichte wie meine unbedingt lesenswert.

Zum einen ist es das aufrichtigste Buch, dass ich in letzter Zeit gelesen habe. So viel Selbstreflexion, Schmerz und Offenheit kennt man von Herman Hesse, von Jerome D. Salinger, von Ernest Hemingway und um hier nicht nur von Männern zu reden: von Simone de Beauvoir, von Anais Nin, von Delphine de Vigan (die Liste ist leicht zu verlängern …) Und nicht zufällig findet Ellis hier viele seiner schriftstellerischen Vorbilder. Schmerz und Offenheit? In der Gegenwart scheint das etwas aus der Mode gekommen zu sein. Wer kann sich so viel Verletzlichkeit noch leisten?

Zum anderen ist es ein extrem geschicktes Spiel mit verschiedenen Realitätsebenen, innerhalb und außerhalb der Geschichte. Ellis nimmt sich jede Freiheit und das ist befreiend. Das liegt vermutlich auch daran, dass er nie richtig im Literaturbetrieb etabliert war oder wurde. Er ist das enfant terrible, das sein Verlag dann schließlich aufgegeben hat, weshalb er sich für sein Comeback einen neuen Verlag in Amerika suchen musste. Wie er sagt: Ohne Vorschuss und große Erwartungen.

Zum anderen ist Ellis reich geboren und immer reich geblieben. Letztendlich muss er nicht schreiben, um irgendjemanden zu gefallen und auch die diversen Preise und Ankerkennungen, die der Literaturbetrieb vergibt, gehen ihm am A*** vorbei. Er kann befreit schreiben. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb er eine so große Provokation für einige Leser:innen ist. Ellis wird geliebt oder gehasst.

Spiel mit den Realtiätsebenen

Es gibt ein Vorwort, es gibt die Story, die sich stark an Ellis Leben orientiert, ein Nachwort, eine reale Ellis-Story, über die er offen spricht und es gibt das Bild, das über die Jahre in unseren Köpfen von diesem Autor entstanden ist. Nichts ist wahr oder – alles? Denn letztendlich ist das wohl die größte Erkenntnis: Wir schreiben uns unser Leben, so wie wir es sehen wollen, so wie wir es empfinden. Egal ob als Autor:innen oder Leser:innen. Jede/r von uns hat etliche Geschichten und Erinnerungen über das, was wir Realität nennen. Spielt es überhaupt eine Rolle, was wirklich geschehen ist? 

Diese Frage stellt der Roman sehr eindringlich und jeder kann sehen, auf welcher Ebene er gerne in dieses Spiel einsteigen möchte. Für mich ergab sich daraus eine ganz persönliche Lesart. Kein Wunder, ist es doch ein Buch, das Vieldeutigkeit herausfordert.

Die Story

Die Story scheint erst einmal wie ein Neuaufguß der American Psycho-Story. Reiche und verwöhnte Highschool-Schüler:innen, ein Serienkiller, viel Sex, Gewalt und Lügen. Das könnten gut die klischeehaften Bestandteile einer Jugendserie sein, doch Ellis schafft es, alles zu twisten. Dabei sollte man sich nicht von dem plaudrigen Ton und den ausführlichen Schilderungen scheinbarer Nebensächlichkeiten täuschen lassen. Oder den Gewaltschilderungen oder den Sexszenen. Dies ist eine sehr brutale Geschichte, aber nicht die physische Gewalt des Serienkillers macht sie dazu, sondern das harte Auftreffen des siebzehnjährigen Bret, der auf der Suche nach sexueller Orientierung und gesellschaftlicher Anerkennung von seinen Eltern oder anderen möglichen Mentor:innen oder sonstigen kompetenten Erwachsenen komplett allein gelassen wird.

„Der siebzehnjährige Bret ist in der Oberstufe der exklusiven Buckley Prep School, als ein neuer Schüler auftaucht. Robert Mallory ist intelligent, gutaussehend und charismatisch und zieht Bret magisch an. Bret ist sich sicher, dass Robert ein düsteres Geheimnis hat, und kann dennoch nicht verhindern, dass Robert Teil seiner Freundesgruppe wird. Als der Trawler, ein Serienmörder, der Jugendliche auf bestialische Weise umbringt, immer näher an ihn und seine Clique heranrückt, gerät Bret zunehmend in eine Spirale aus Paranoia und Isolation. Doch wie zuverlässig ist Bret als Erzähler?“ (Kiepenheuer und Witsch Verlag)

Warum hängen sich alle so an der Geschichte des Serienkillers auf? Er scheint mir – genau wie in American Psycho, nur ein Konstrukt zu sein, um von dem inneren Schmerz des Helden abzulenken. Von Brets Schmerz in einer Welt, in der Erwachsene vorgeben, alles im Griff zu haben und gleichzeitig nicht nur scheitern, sondern die nachfolgende  Generation mit in den Schlamassel ihrer eigenen Orientierungslosigkeit ziehen.

Drama und Dramaturgie

Ellis hat lange in Hollywood als Drehbuchautor gearbeitet und  (zum Beispiel in Imperial Bedroom) spricht nicht gerade freundlich über die Szene und die Zeit. Und doch hat er hier gelernt, wie man ein Drama in eine gute Dramaturgie packt. Daher kann es kein Zufall sein, dass er *Achtung Spoiler* den Missbrauch durch den Vater seiner Freundin in die Mitte seiner Geschichte stellt. Den Vorfall, den er in Interviews als wahr bezeichnet (der Produzent soll mittlerweile tot sein), die er herunterspielt und um die diese Geschichte meiner Meinung nach kreist.

Denn Bret ist gay und das ganz ohne eigene innere Zweifel, aber die Angst, damit noch verletzlicher zu werden, lässt ihn ein Scheinleben aufbauen. So weit so gut auch aus Ellis „richtigem“ Leben bekannt. Mittlerweile lebt er mit seinem Lebensgefährten und scheint glücklich zu sein, doch der Coming-Out-Prozess hat ihn Jahrzehnte gekostet. Interessanterweise ist davon in dem Blurb des Verlags nicht die Rede. Der coole, zynische Bret Easton Ellis ist uns lieber, als der weiche, sensible. Wir folgen hier der Spur des Autors, der die Wut auf das, was ihm angetan wurde, auch heute noch herunterspielt. Frauen sagen #metoo, Ellis sagt heute in Interviews, er hätte eben „mitgespielt“. Und wir nehmen ihm das ab? Wir lassen es ihm durchgehen? Doch sich selbst macht Ellis nichts vor. The Shards, die Scherben, ist ein Buch über das heftige Erwachen einer Sexualität, die gesellschaftlich in den 80ern in seinen Kreisen noch nicht anerkannt war. Die Eltern oder überhaupt zuverlässige Erwachsene sind mit sich selbst beschäftigt und machen den Missbrauch möglich.

Weltschmerz

“It strikes me profoundly that the world is more often than not a bad and cruel place.”
Bret Easton Ellis, American Psycho

Der Schmerz wird – mir scheint bis heute – verborgen, doch die Wut und Gewaltfantasien werden ausgelebt. Denn Opfer und Täter verbindet schon immer ein schwieriges Band. So waren die Serienkiller der 70er Jahre, die in Hollywood ihre Verbrechen begannen, keine Monster, sondern gut aussehende Männer, die von vielen Frauen, trotz ihrer Verbrechen geliebt wurden und sich im Gefängnis noch verheiratet haben. Wie verrückt ist das? Und auch der junge Bret muss sich eingestehen, dass seine Sexualfantasien über Männer, nicht von deren vermeintlichen Verbrechen aufgehalten werden. Wie kann er es dann seinem Vergewaltiger vorwerfen? Doch, er könnte. Denn es ist ein Unterschied, von Gewalt oder Sex zu träumen oder sie auszuleben.

Stil und Sprache

Wer bei diesem Buch auf Sprache oder Stil herumhaut, der hat eines nicht verstanden.: Dieses Buch will nicht schön und richtig sein. Ich habe selten so viele Unds an Satzanfängen gelesen und ich hätte mir eine strengere amerikanische oder zumindest deutsche Lektor:in gewünscht. Etliche Wiederholungen. Das Wort „Abgestumpftheit“ kommt ununterbrochen vor. So wird numbness übersetzt , aber ich finde, diese Übersetzung trifft es nicht. Wohl eher Taubheit, Gefühllosigkeit. Das, was man nach einem Trauma erlebt. Und wer dieses Trauma erneut durchlebt, dem kreidet man keine stilistischen Fehler an. Ellis hat dieses Buch hervorgewürgt, sich abgerungen, wie er selbst sagt, mehrmals versucht es zu schreiben. Der Stil ist passend und natürlich nicht elegant.

“A great numb feeling washes over me as I let go of the past and look forward to the future. Pretend to be a vampire. I don’t really need to pretend, because it’s who I am, an emotional vampire. I’ve just come to expect it. Vampires are real. That I was born this way. That I feed off of other people’s real emotions. Search for this night’s prey. Who will it be?”― Bret Easton Ellis, The Rules of Attraction

Fazit

Ein Buch, dass ich allen empfehle, die auf der Suche nach mehr sind und bereit sich dafür zu öffnen.

 

  • Verlag: Kiepenheuer&Witsch
  • Erscheinungstermin: 17.01.2023
  • 736 Seiten
  • ISBN: 978-3-462-00482-3
  • Übersetzt von: Stephan Kleiner

 

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