„Eine vollständige Liste der Dinge, die ich vergessen habe“ von Doris Knecht
„Eine vollständige Liste der Dinge, die ich vergessen habe“ von Doris Knecht wäre ein Coverkauf gewesen, wenn ich nicht das Rezensionsexemplar bekommen hätte. Wow, die Aufmachung ist ein Volltreffer. Natürlich verbinden sich mit besonders lebendigen und interessanten Covern auch Erwartungen an den Inhalt. Nachdem ich zwei Bücher von Doris Knecht gelesen habe und mir besonders „Die Nachricht“ sehr gut gefallen hat, war ich gespannt. Es ist allgemein diese Mischung aus Widerspenstigkeit, Fantasie und Nüchternheit (und ich weiß, dass dies wie ein Widerspruch klingt), die mich an Doris Knecht begeistern. Doch dieses Buch ist anders. Sensibler, vermutlich persönlicher, offen und verletzlich. Das mag ich – nur kam es bei Doris Knecht etwas überraschend und in einem Mix, der mich nicht immer ganz überzeugt hat.
„Wie ist es, wenn das Leben noch einmal neu anfängt? Doris Knechts neuer Roman ist die zutiefst menschliche und intime Selbstbefragung einer Frau, die an einem Wendepunkt steht. Sie versucht, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden. Und zugleich weiß sie, dass ihr das niemals gelingen wird. (Hanser Verlag)“
Fängt das Leben wirklich noch einmal neu an? Bei Knecht klingt es nie nach Begeisterung und Neuanfang, sondern immer nach Verlust. Die Kinder ziehen aus, die Wohnung (groß und schön) wird aufgeben, es werden pragmatische Entscheidungen getroffen und es geht verdammt viel um Besitz, der angesammelt wurde und jetzt aufgegeben und neu sortiert wird.
Wohnen und Schreiben
Es ist Herbst, trüb und kalt. Die Luft besteht aus grauer Feuchtigkeit. Der Parkplatz ist fast leer, bis auf ein paar Leute mit Hunden und eine Läuferin in neonfarbener Jacke, die bei geöffneter Autotür ihre Schuhe wechselt. Auf der einen Seite grenzt der Parkplatz an eine Allee kahler Bäume, an der anderen verläuft hinter einer Buschreihe eine mehrspurige Straße. An einem altmodischen Kiosk an der Ecke stehen ein paar Leute mit Bierflaschen herum, wie immer. (S.11 „Eine vollständige Liste der Dinge …)
Dieses Zitat fängt die Stimmung des ganzen Buches gut ein. Irgendwie ist etwas zu Ende oder hat sich zu oft wiederholt, aber eigentlich ist es auch wie immer. Es wird sich nicht aufgeregt, es wird eher ertragen. Der neue Lebensabschnitt. Als Schreibende, deren drei Kinder das Haus schon lange verlassen haben, konnte ich vieles nachempfinden. Auch den Hund … der so seine eigenen Probleme mitbringt, allerdings hauptsächlich das Verhalten und die Stimmung der Hundeeltern spiegelt. Oder de Suche nach einem Schreibplatz:
Das erste Zimmer, in dem ich ungestört schreiben konnte. Davor schrieb ich mit großen Kopfhörern auf den Ohren, die das Familienleben, das um mich herum ablief, zu einem Stummfilm machten, bei dem ich nicht im Publikum saß, sondern Teil der Besetzung war, ein lebendes, atmendes Requisit, das versuchte, sich unsichtbar zu machen. Spielende, rennende, laufende, lachende Kinder um mich herum … („Eine vollständige Liste der Dinge … )
Schreiben und Familienleben – ein großes Thema, aber eigentlich ist es bei Doris Knecht ja schon vorbei. Eine Vergangenheit, die noch einmal hochgeholt wird, genauso wie das Leben in ihrer Kindheit mit vier Schwestern, die so ganz anders als sie sind.
Besitz und Leben
Wirklich erst sehr spät habe ich verstanden, dass die Protagonistin im Buch nicht etwa kurz vor der Obdachlosigkeit steht, sondern noch eine Mini-Schreibwohnung und ein kleines Haus auf dem Land gekauft hat. Möglicherweise ist dieser Fakt der Realität geschuldet, die hier aufrichtig beschrieben werden wollte, denn dramaturgisch gesehen ist das für mich der Punkt gewesen, an dem ich mich gefragt habe: Worüber beschwert sie sich eigentlich?
Obwohl ich jetzt schon seit Monaten in meiner neuen Wohnung wohne, so lange, dass sie längst nicht mehr neu ist, habe ich den Suchauftrag im Netz behalten, weil sich auch Johnny nach einer Wohnung umsieht und weil mich Immobilien interessieren, seit ich das Haus und die Mini-Wohnung gekauft habe. (Pos 2327 „Eine vollständige Liste der Dinge …)
Es geht viel um Besitz, um das Umziehen und Weggeben, um Holzbänke und Tische, um Platz in großen und kleinen Wohnung, darum, wo die ausziehenden Kinder unterkommen, wie Mutter und Freundin sich darum kümmern und alles und in Hand nehmen. Okay, I get it! Es ist wichtig, einen Wohnort zu haben, eine Wohnung, einen Arbeitsplatz. Aber ist es ein Thema für 240 Seiten?
Die Labidarität mit der Doris Knecht erzählt, mag ich, aber das Fehlen einer eindeutigen Dramaturgie hat das Lesen für mich schwierig gemacht. Ich lasse mich gerne von Büchern mitreißen, hier wurde ich oft heruntergezogen. Denn nichts von dem, was sie hier als mühsam und traurig oder bedrückend beschreibt, muss so wahrgenommen werden. Wir alle haben die Wahl.
Sprache
Ich mag Doris Knechts Art zu schreiben, den journalistischen Stil, das präzise Handwerk, die genauen Beobachtungen. Eine Sprache, die mich immer genau an einen bestimmten emotionalen Punkt führt, mich exakt spüren lässt, was ich spüren soll. Dass ich in dem Fall nicht dort hinwollte, wo Knecht mich hingeführt hat – ändert nichts an meinem Respekt für ihre Erzählkunst, ihrem Versuch, eine Geschichte einmal ohne den sonst üblichen starken Erzählungrahmen zu schreiben.
Leseerfahrung
Keine Frage: ein Buch, das viele Leser:innen lieben werden und noch viel mehr Leser:innen vermutlich aus dem Herzen spricht. „Ein Buch das beglückt, begeistert, beeindruckt“, sagt Buchhändlerin Maria Christina Piwowarski. Da hätten wir uns wohl beim Lesekreis im Ozelot wieder mal mächtig gestritten. Knecht-Fan bleibe ich trotzdem.
„Eine vollständige Liste der Dinge, die ich vergessen habe“ von Doris Knecht:
- Erscheinungsdatum: 24.07.2023
- 240 Seiten
- Hanser Berlin
- Fester Einband
- ISBN 978-3-446-27803-5
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