„Geschichten der Nacht“ von Laurent Mauvignier
Laurent Mauvignier siedelt seine Geschichte in einem Weiler an. Im Nirgendwo der französischen Provinz. Ein Weiler – ich musste es nachschlagen –, ist eine Siedlung aus wenigen Gebäuden, kleiner als ein Dorf und vor allem ohne ein zentrales Gebäude wie etwa eine Kirche oder ein Gasthaus. Ohne diese traditionellen Begegnungstätten ist der Weiler der Geschichten der Nacht auch keine ländliche Idylle, sondern ein albtraumhaft isolierter Unort. Nach außen abgelegen und nach innen ohne einen Ort der Kommunikation.
Hier wohnen Marion und Patrice gemeinsam mit ihrer Tochter Ida, und nebenan wohnt Christine, die fast schon wie eine Verwandte zur Kleinfamilie gehört, ohne dass die vier sich wirklich begegnen würden. Als erstes fällt auf, dass Mauvignier mit extrem langen, verschachtelten Sätzen arbeitet. Dabei gelingt es ihm großartig schon im ersten Satz sehr viel Information über zwei der Hauptprotagonisten unterzubringen, gleichzeitig sehr viele Fragen aufzuwerfen.
Er beginnt aus dem Blickwinkel einer Frau, die einen Mann betrachtet. Wunderbar, wie dadurch, dass sie ihn beobachtet, schon ein subtiles Machtverhältnis angedeutet wird. Sie sitzt auch räumlich über ihm, etwas höher an einem Fenster, während er unten auf dem Parkplatz wartet. Aber es geht — wir sind immer noch im ersten Satz — noch weiter. Denn nicht nur das Verhältnis der beiden wird angedeutet, sondern Mauvignier macht auch klar, dass es in dem Buch offensichtlich um die Subjektivität der jeweiligen Perspektive geht. Denn sie nimmt ihn, von ihrem etwas erhöhten Standpunkt »etwas verzerrt« wahr, »etwas gedrungener, als sie es tatsächlich ist, die Gestalt des Mannes«. Es geht also um ihre Sicht auf ihn. Sie sieht sich über ihm und ihn kleiner, gedrungener, in einer niedrigeren Position, wohl auch untergebener als er es ist, oder sein müsste.
Schnell wird klar, dass es nicht nur um ihre subjektive Sicht auf die Welt und die Menschen in ihr geht.
Erzählperspektive
Immer wieder wechselt die Erzählperspektive zwischen den Figuren, ändert Mauvignier den Fokus und die Erzähldistanz im Laufe der Erzählung. Dadurch gelingt Mauvignier ein wunderbar, oft ironisches Spiel zwischen der Selbstwahrnehmung der Protagonisten und ihrer Außenwahrnehmung. Und er nimmt sich um so mehr Zeit für die Innenwahrnehmung, das inner chatter seiner Personen, je weniger Zeit sie für sich und die Kommunikation mit den anderen zu haben scheinen.
Immer noch im ersten Satz wird über die Darstellung der Zeit auch schon der Modus der Erzählung deutlich gemacht. Denn Mauvignier lässt sich Zeit. Lesezeit und Erzählzeit vergehen schwerfällig.
Die langen, mäandernden Sätze drosseln auch das Lesetempo einer erfahrenen Leser:in. Und in der Geschichte selbst ist der Kangoo »alt«, es wird »gewartet«, »wie oft schon«, »zwei oder drei Mal«, »wahrscheinlich schon zu lange«, usw. Besonders deutlich wird diese Dehnung der Zeit an einem auffällig redundanten Einschub. Da heißt es: »wenn sie sich die Zeit nähme, sich dafür zu interessieren«. Sie ist nicht einfach desinteressiert, sondern nimmt sich nicht die Zeit. Sie ist gewissermaßen in dem tristen Wartezimmer anwesend und gleichzeitig nicht anwesend. Damit wird die Frage aufgeworfen, hält sie die Welt auf Abstand oder wird sie von der Welt auf Abstand gehalten. Die »Sonne blendet«, hindert sie die Welt »so zu sehen, wie sie es gern täte«, sie sitzt erhöht, der Parkplatz ist »abschüssig«, die Pflanze ist »mickrig« und Kindererziehung mit »Scherereien« und »Kollateralschäden« verbunden.
Stilmittel
Bezeichnenderweise erfahren wir nicht einmal den Grund ihres Besuchs bei der Gendamerie, als käme es darauf gar nicht an. Das ist hier nicht einfach ein Stilmittel, mit dem die Leser:in durch eine active question engagiert werden soll, sondern offenbart auch das Verhältnis dieser Protagonistin zur Welt. Sie hält sich raus aus den Dingen, sitz über ihnen. Sie ist, wie auch die anderen Protagonisten nicht wirklich präsent im Augenblick.
Es tut sich eine schmerzhafte, fast unerträgliche Abwärtsspirale aus Selbsthass und Verleugnung auf, in die alle auf unterschiedliche Weise von Wunden und Verletzungen der Vergangenheit hinabgezogen werden, gefangen in inneren Narrative, ohne sich nach außen mitteilen zu können. Jeder Versuch, die Isolation aufzuheben, jeder Gesprächsansatz, jeder Versuch zur Kommunikation, jede Handlung scheint unnütz und scheitert. Bis die Vergangenheit durch eine gegenwärtige, tödliche Bedrohung in das Leben der vier Protagonisten und die Geschichte einbricht.
Für mich hätte es diesen Wechsel in Thrillergenre nicht gebraucht, den Ian McEwan z.B. in Saturday so elegant vorgenommen hat. Man kann vielleicht darüber streiten, ob Mauvignier absichtlich einen Thrillerstil imitieren wollte oder ob ihm im Eifer des Gefechts klischeehafte Formulierungen unterlaufen sind. Da wirft dann die Taschenlampe »ihr gespenstisch weißes Licht auf den Boden«. Die Verletzte hinterlässt eine »Blutspur«, und der Verfolger »kann ein Lächeln nicht unterdrücken«. Der Showdown ist dann beinahe tatortmäßig kitschig.
Autor
Laurent Mauvignier, 1967 geboren in Tours, studierte bildende Kunst. Seit 1999 hat er mehrere Romane veröffentlicht, für die er vielfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Prix des Libraires (2009). Zuletzt auf Deutsch erschien sein Roman Mit leichtem Gepäck. Er lebt in Toulouse. (Quelle Verlag)
Fazit:
Im ersten Teil großartige Literatur, im zweiten Teil ein hervorragendes Treatment für einen Samstagabendthriller. Ein wunderbar gut geschriebenes Buch mit einem ungewöhnlichen Twist ins Thrillergenre.
„Geschichten der Nacht“ von Laurent Mauvignier
- Roman
- Verlag: Matthes & Seitz
- 510 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
- Übersetzung: Claudia Kalscheuer
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