Rezension

„Ein falsches Wort“ von Vigdis Hjorth

14. März 2024
„Ein falsches Wort“ von Vigdis Hjorth

„Ein falsches Wort“ von Vigdis Hjorth (als dem Norwegischen von Gabriele Haefs) ist die spannende und stilistische neuartige Umsetzung eines alten Themas, das leider immer noch von einer bedrückenden Aktualität ist: Missbrauch. Dies ist kein Spoiler, denn wer zuhört, der weiß das schon nach den ersten Seiten und nimmt das unangenehm Gefühl der Bedrohung und der Verletzung bis zum Ende des Romans mit.

Es ist auch deshalb kein Spoiler, weil dieses Buch die norwegische Öffentlichkeit und Hjorth Familie nach seiner Veröffentlichung stark beschäftigt hat und ausführlich darüber berichtet wurde. Denn es ist ein autofiktionales Buch, in dem Namen und einige Umstände geändert wurden, aber die Zusammenhänge leicht erkennbar sind. Helga Hjorth, die Schwester der Autorin, verfasste sogar eine Art Gegenroman Fri vilje („Freier Wille“), um das Ansehen der Familie wieder herzustellen.

Wie konnte uns dieser Text entgehen? Der schon 2017 unter dem dem Titel „Bergljots Familie“ im Osburg Verlag erschien und kaum wahrgenommen wurde. Nun, es gibt wohl für alles eine Zeit und gerade ist es die Zeit von Vigdis Hjorth, die jetzt als eine der herausragenden Autorinnen Norwegens gefeiert wird. Und es ist auch eine Zeit, in der Romane von Frauen immer öfter als Literatur angesehen werden und nicht hinter dem Label „Frauenroman“ verschwinden.

Mich hat das Buch sehr beeindruckt. Das Thema wäre für mich eher ein Grund gewesen, das Buch abzubrechen. Nicht, weil es nicht wichtig wäre oder ich es zu oft höre, sondern weil das Lesen an manchen Stellen emotional sehr anstrengend ist. Und sein soll. Das ist eine der Leistungen des Buches, dass wir das fühlen können, was die Autorin uns fühlen lassen möchte. Bedrohung, Unsicherheit, Angst, Unglaube, Verwirrung, Wut, Rache, Schmerz.

Stil und Umsetzung

„Es ist die falsche Frage, ob das mein Leben ist“, sagt die Autorin in einem Interview mit der ZEIT.  Denn es geht ihr weder um eine Abrechnung mit ihrer (alten) Familie, noch um ein Aufdecken. Auch wenn ihre Romane, wie sie selbst bestätigt, zur radikalen skandinavischen Selbstentblößungs-Literatur gehören. Karl Ove Knausgård fällt einem da gleich ein oder Jon Fosse, der 2023 den Literatur Nobelpreis erhielt.

Interessant ist hier die Umsetzung. Anders als Fosse und Knausgård, mit ihrem manchmal quälend langsamen linearen Erzählstil, springt Hjorth zwischen den verschiedenen Zeiten der Erzählung hin und her. Die Protagonistin ist 60, hat mit 30 in einer Therapie ihren Missbrauch aufgedeckt, der im Alter von fünf Jahren begann. Und alles hängt zusammen, hat sich über Stationen der Erkenntnis und Abrechnung oder Ausspracheversuchen mit der Familie bis in die Gegenwart entwickelt. Denn mit dem Aufdecken des Missbrauchs ist es nicht getan – hier wird die Frage gestellt: Was, wenn dir keine glaubt? Was, wenn du es nicht beweisen kannst? Was, wenn es überhaupt keine Rolle für die Menschen deiner nächsten Verwandtschaft spielt, ob tatsächlich etwas passiert ist? Oder anders gesagt: Wenn sie es lieber leugnen, als mit der Ent-täuschung umzugehen,

Anlass der Rückerinnerung ist der Tod des Vaters und eine anstehende Erbschaft. Geld und Macht, und Geld und Zuwendung werden zum Themen. Durch das fast unmerkliche Hin- und Herspringen zwischen den Zeitebenen, entsteht mehr ein Gefühlsteppich als eine fortlaufende Erzählung. Und das ist gut, denn für Menschen, die durch ein Ereignis traumatisierte wurden, ist die Vergangenheit aktueller als die Gegenwart, schaltet sich immer wieder ein und definiert sie. Dies nachzuempfinden gelingt Hjorth grandios.

Fazit

Wie schön, dass dieses Buch endlich eine größere Beachtung findet. Es erzählt uns etwas über die Macht der Erinnerung, die Abwesenheit einer echten Wahrheit und dem Leben mit Trauma. Und es ist innovativ in der Umsetzung und gleichzeitig spannend und emotional. Unbedingte Leseempfehlung.

Die Autorin

Vigdis Hjorth ist 1959 in Oslo geboren. Ihr Werk unter anderem mit dem norwegischen Kritikerprisen und dem Bokhandlerprisen ausgezeichnet und war für  den International Booker Prize nominiert.

Dr. Gabriele Haefs, übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen, Englischen, Niederländischen und Gälischen, u.a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt.

„Ein falsches Wort“ von Vigdis Hjorth

Übersetzt aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

  • Verlag: S. Fischer Verlag
  • Erscheinungsdatum: 13. März 2024
  • ISBN: 978-3-10-397513-0

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