Rezension

„Treibgut“ von Adrienne Brodeur

17. April 2024
„Treibgut“ von Adrienne Brodeur

„Treibgut“ von Adrienne Brodeur ist ein Familienroman wie ich ihn schon oft gelesen habe. Disfunktionale Charaktere, ein Familienevent, der alle zusammenbringt, Geheimnisse, die enthüllt werden und Wahrheiten, die ans Tageslicht kommen. Doch dann sind die Charaktere als auch die Storys in Treibgut überraschend neu und frisch. Ein Vater, der seine Kinder allein aufgezogen hat und an einer ständig schwellenden psychotischen Störung leidet. die Tochter, die eine alleinstehende Malerin ist und schwanger von ihrem Exfreund ist, der karriereorientierte Sohn, der verbirgt, dass seine Ehe mit der besten Freundin seiner Schwester nicht mehr funktioniert. Aber ist ist nur der Einstieg, es wird noch bunter und abgedrehter.

Treibgut" von Adrienne BrodeurEigentlich mag ich diese Art von Konstellationen, doch in Treibgut wurde es mir schnell zu viel. Zu viel gewollt von der Autorin, die so ungefähr jedes zeitrelevante Thema anzusprechen versucht (Umwelt, Klima, LTGBWQ, Kunst, Krankheit, Ehe, Kinder, Karriere, Kreativität, Schwangerschaft, Feminismus, Vaterschaft, Chatrooms, Dating-Apps, Verlust und Trauer, Trauma … ) bzw anspricht und erwähnt und in die Story einbindet.

Bedächtig erzählt

Vielleicht hätte es für mich funktioniert, wenn das Tempo des Romans ein weniger schneller gewesen wäre, eine Art Tour de Force durch den Zeitgeist oder die Struktur ungewöhnlicher. Aber dieser Roman nimmt sich Zeit. Zu viel für mich als ungeduldige Leserin. Denn irgendwie ist ja klar, worauf das alles hinausläuft. Den große Crash und Clash.

Die Erzählung (in der 3. Person) springt von einem Charakter zum nächsten und deckt so fünf Protagonisten ab, die alle ihre eigenen Geschichten haben.

Neben sehr viel „Wissen macht Ah“-Sequenzen konnte ich zu ihnen keine tiefe Bindung aufbauen. Am spannendsten waren die Passagen über Adam, den 70-jährigen Vater mit einer bipolaren/psychotischen Störung zu lesen, die ich extrem gut beschrieben fand. Gleichzeitig waren das allerdings auch die Passagen, die für mich überhaupt nicht zu den freundlichen Blurbs der Presse passten:

«Eine perfekte Sommerlektüre.» Washington Post

Nein, ehrlich gesagt ist dieser Roman nicht das, was ich als „Sommerlektüre“ beschreiben würde. Was also dann?

Für wen ist das Buch?

Der Verlag nennt das Buch:

„Ein fesselnder Roman über eine komplizierte Familie und lang gehütete Geheimnisse.“ (Rowohlt Verlag)

Sind nicht alle Familien kompliziert? Und gibt es nicht in jeder Familie Geheimnisse?

Nun, für die Leser:in lagen die meisten Geheimnisse offen. Wir wissen Bescheid, und sehen den Protagonisten dabei zu, wie sie langsam, sehr langsam, Informationen übereinander herausfinden. Eine heile Familie in die Luft zu sprengen, das bedeutet etwas. Eine disfunktionale Familie, die mich die ganze Zeit eher unberührt gelassen hat, kann gerne in die Luft fliegen. Wenn nichts verloren gehen kann, steht dramaturgisch zu wenig auf dem Spiel.

Die Autorin

Adrienne Brodeur ist Geschäftsführerin einer literarischen Nonprofit-Organisation, und Mitbegründerin der Literaturzeitschrift «Zoetrope» . Sie hat als Lektorin in einem großen Verlag gearbeitet und hat Essays in u.a. «Vogue» und «The New York Times» veröffentlicht. Ihr Memoir «Wild Game» war ein New York Times Bestseller und ist als Netflix-Film in Vorbereitung.

Fazit

Brodeur kann schreiben, allerdings fehlte mir die literarische Tiefe, ein Einlassen der Autorin auf ihre eigenen Charaktere und eine Geschichte, die mich stärker mitnimmt. Der Roman hat eine solide Dramaturgie und teilweise geniale Passagen. Gleichwohl war die Geschichte für mich ein wenig zu bemüht intellektuell und an Zeitgeist-Themen orientiert und daduch etwas zähflüssig.

„Treibgut“ von Adrienne Brodeur
  • Übersetzt von: Karen Witthuhn
  • Kindler Verlag (Rowohlt)
  • ISBN: 978-3-463-00056-5
  • 16.04.2024

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