„Long Island“ von Colm Tólbin
„Long Island“ von Colm Tólbin ist eine Art Fortsetzung zu seinem Erfolgsroman „Brooklyn“.In Brooklyn wandert die junge Irin Eilis Lacey in den 50er Jahren nach Amerika aus, um in Brooklyn eine neue Arbeit und Beziehung zu finden. In „Long Islalnd“ sehen wir ihre Ehe und ihr Leben – salopp gesagt – in die Luft fliegen.
Da steht auf einmal ein Mann vor der Tür und verkündet ihr, dass seine Frau ein Kind von ihrem Mann (Tony) erwartet, die andere Frau das Kind austragen werde, aber er es dann wie eine Zahnbürste, die jemand bei einer Affäre im anderen Haus liegen gelassen hat, bei Eilis vor die Tür legen werde. Und es überschlagen sich die Kritiken wie großartig dieser Auftakt ist, weil er so viele Fragen aufwirft. Indeed.
Als Leserin gäbe nehme ich diese Prämisse sofort an: Was würde ich tun, wenn ich in der gleichen Situation wäre? Tony zur Rede stellen, zusammenbrechen, wütend werden, die Scheidung einreichen und so weiter. Eilis – tut nichts von alldem. Sie denkt nach. Darüber, dass der gehörnte Ehemann ebenfalls Ire ist und wie man in Irland in einem solchen Fall verfahren würde und was ein Mann in Irland wohl tun würde und – ich warte. Warte auf eine authentische Reaktion einer Frau, die eine solche Nachricht bekommt.
„Als er fortgegangen war, ging sie ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf einen Stuhl. Sie schloss die Augen. Irgendwo, nicht weit weg, gab es eine Frau, die von Tony ein Kind erwartete. “ (Position 80, E-Book)
Und Ellis überlegt weiter. Mit dem Gedanken bei der fremden Frau, bei Irland, ihnen Schwestern. Und dann denkt sie wieder an Tony und ob er wohl geahnt hat, dass dieser fremde Mann kommen würde und dann sieht sie auf den Stadtplan von Neapel und – dann wird uns anscheinend so nebenbei die Handlung des ersten Romans (Brooklyn) erzählt und ich verliere den Kontakt zur Hauptfigur. Wie kann sie jetzt über Neapel nachdenken?
Handlung
Ich mag das Projekt oder die Idee, eine Buchfigur an der Stelle wieder abzuholen, wo man sie vor über 10 Jahren stehengelassen hat. Eilis befindet sich immer noch in den 50er Jahren in Brooklyn, ihre Kinder sind Teenager, eigentlich kann sie … gehen. Denn in „Brooklyn“ hat sie ihre Jugendliebe Jim in Irland für ein Leben in Amerika zurückgelassen. Der Klappentext wirbt mit atemberaubender Intensität und psychologischer Klarsicht – mir fehlt beides schon auf den ersten Seiten.
Die bestehende Ehe von Eilis ist mir ziemlich egal, was vermutlich damit zusammenhängt, dass ich Brooklyn nicht gelesen habe. Ihre Kinder sind mir fremd, aber Eilis bringt sie mir auch nicht besonders nah. Es leuchtet ein, dass Tóbin uns hier nicht in viele sentimentale Gefühle eintauchen lassen will, da Eilis im 2. Teil des Buches weggehen wird. Zurück nach Irland und zurück zu ihrer ersten Liebe. Dann war das alles nur der Anstoß für die Handlung? Gleichwohl ist es der Einstieg in den Charakter der Hauptfigur und der viel mir sehr schwer.
Ein Mann und eine Frau treffen sich nach fast zwanzig Jahren wieder – und stehen noch einmal vor der Entscheidung ihres Lebens. (Hanser Verlag)
Eilis wird in Irland auf ihre alte Jugendliebe treffen und wird vor der Entscheidung ihres Lebens stehen? Nun, die scheint mir nicht sehr schwer zu sein, denn wie sieht die Alternative aus? Auch noch das Kind des Seitensprungs großziehen?
Der Autor und sein Weltbild
Colm Tólbin ist ein irischer Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker, er kann schreiben, aber sein Frauenbild ist mir komplett fremd. Alle weiblichen Figuren sind immer mit den Gedanken bei den Männern, und Kindern, ob es allen gut geht, während die sich volllaufen lassen oder fremdgehen, jedenfalls nicht mir ihren Gedanken bei ihren Frauen sind.
Die Frauen dagegen fragen sich ständig, ob es auch recht ist und ob sie auch niemanden stören, mit dem Rauch oder Geräuschen und einfach nur mit ihrem Dasein. War das in den 50er Jahren so? Und was wird der Leser:in hier erzählt? Die Geschichte einer Befreiung? Doch diese Frauen haben sich ein eigenes Gefängnis aus Nettigkeit und Zuvorkommenheit gebastelt aus dem sie auch keine Wiederbegegnung mit einer Jugendliebe befreien wird.
Stil
Ich kannte mir vorstellen, dass dieses Buch mit einem anderen Cover und anderer Aufmachung in der leichten Frauenliteratur landen würde. Kurz, wenn es nicht ein Mann mit einer gewissen Reputation im Literaturbereich geschrieben hätte. Der Stil ist klar und flüssig, an einigen Stellen rutscht es für mich in den Kitsch ab.
„Kannst du mir auch erklären, wie es kommt, dass du mi t einer Frau verlobt bist, die früher meine beste Freundin war?“
„So einfach ist die Sache mit. Die Wahrheit ist, dass ich dich liebe und mit zusammen sein will.“ (Position 4238 E-Book)
Ja, so einfach ist die Sache nicht und wir wissen es alle.
Fazit
Dass dieses Buch nichts für mich war, ist wohl klar geworden. Es hat mich geärgert, wie mir ein ziemlich seichter Roman als „ein Meisterwerk der Erkundung widersprüchlichster Gefühle: mitreißend, aufwühlend, unwiderstehlich.“ verkauft wird.
Für alle, die Brooklyn gelesen und geliebt haben, vielleicht eine sinnvolle Fortsetzung, für mich eine Endtäuschung.
„Long Island“ von Colm Tólbin
Übersetzt aus dem Englischen von Ditte Bandini, Giovanni Bandini
Erscheinungsdatum: 13.05.2024
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-28231-5
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