Martin Luther 2017

Martin Luther #33 Luther – Romreise

17. August 2017
Romreise

Ich stelle mir gerne vor, wie Leute im Mittelalter gereist sind. Zu Fuß oder auf einem Pferd, manchmal mit einem Karren, den man rumpelnd hinter sich her zieht. Und wenn einem Regensträhnen die Sicht verschlieren und man ächzend unter der Kapuze hervorspäht, die Knöchel knietief im Schlamm versunken.  Reckt einer den Finger und ruft; „Noch zwei Meilen bis Burg Höckerstein! In vierzehn Tagen sind wir da!“ So. oder so ähnlich.

Wie auch immer. Irgendwie fasziniert es mich, wie schwer es gewesen sein muss, von einem Ort zum andern zu kommen. Luthers Romreise war ein enormes Unterfangen. Mehrere Monate zu Fuß, durch die Alpen und das im Winter. Vor ein paar Wochen bin auch ich nach Rom gereist…

2017

Wir starten in aller Herrgottsfrühe von Zuhause aus. Zum Flughafen Schönefeld braucht man immerhin zwei Stunden. Die Sonne geht gerade auf, die Vögel zwitschern und der fast leere Shuttlebus düst über die morgendliche Landstraße. So weit so gut.

1510

Luther hat seine Taschen gepackt, die guten Wandersandalen und die extrawarme Kutte an. Der Morgen riecht kalt und frisch. Ein Oktobertag wie er im Buche steht. Die Bäume im Hof fangen schon an goldgelbe Blätter zu kriegen.

2017

Wir rumpeln, den Rollkoffer hinterherziehend die Stufen zum Check In hinauf. Perfekt. Noch eine halbe Stunde bis zum Abflug. Die Schlange sieht verdächtig lang aus, aber das wird wohl seine Richtigkeit haben.

1510

Luther schnuppert. Riecht es nach Regen? Nein, nur ein paar hellgraue Wolken fegen über den Herbsthimmel, ein Windstoß durchwirbelt die Tonsur.

2017

Wir treten nervös von einem Fuß auf den anderen, recken die Köpfe. Müssten wir nicht schon längst dran sein? Das schwedische Pärchen vor uns wirkt entspannt. Ok, alles gut.

1510

„Grüß Gott, Wohin des Wegs?“
„Nach Rom, Bruder.“
„Rom! Die heilige Stadt!“
Zwangloses Plaudern, knirschender Kies unter den wandernden Ledersohlen.

2017

Einer tippt mich von hinten auf die Schulter.
„Müsst ihr auch nach Rom?“ Wir nicken.
„Sieht nicht so aus, als würden wir es rechtzeitig durch den Sicherheitschek schaffen, oder?“ Ticketgeraschel, hin und her Gewende. Das leise Piepen, der Body-Scanner im Hintergrund. Warum sind alle hier so ruhig?

1510

Jetzt doch ein paar Tropfen. Das Proviant aus frischgebackenem Brot und einem harten salzigen Käse aus dem Taschentuch gewickelt. Auf einem großen Feldstein sitzend, lässt Luther kauend, die Beine baumeln.

2017

Mein Herz beginnt zu rasen. „Du hast recht, wir können das unmöglich schaffen. So langsam wie die da vorne herumhantieren …Entschuldigung, hallo, sorry, Entschuldigung … wir müssen nach Rom, ich glaube unser Flug geht gleich und ich bin mir nicht sicher, ob wir es durch die Sicherheitskontrolle schaffen …“ Die Herde wird unruhig.

1510

Luther beobachtet ein paar Schafe, die am Wegesrand grasen. „Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte…“ Zieht die Kutte enger.

2017

Die Uhr tickt erbarmungslos, die Zeiger verschwimmen vor meinen Augen. Dann endlich! Rucksack aufs Förderband geschmissen, alle Ketten und Ringe heruntergezerrt, das Kleingeld, die Schuhe … Und durch den Body-Scan. Hinter mir höre ich meinen Freund gefragt werden, welche Nationalität sind sie? „Sie, nochmal zu mir. Zeigen sie mir mal ihre Füße.“ Dynamit in den Socken? Ich hebe brav die Füße, dann ab zu den Sachen. Alles wahllos übergeschmissen und ab durch diese typisch leeren Flughafenflure. Hinter mir höre ich meinen Freund rennen. Meine Haare wehen im Klimaanlagenwind, all meine Sachen flattern hinter mir her. Der Rollkoffer rast.

1510

„Und dann, mitten in all dem Regen und Sturm, schlug ein Blitz dicht vor mir in die Erde ein, und ich konnte beiseite springen und betete zu Gott er solle mich verschonen. Eine Düsterns bezog den Himmel, dass ich die Schwärze nicht von der Schwärze der Nacht unterscheiden konnte…“ Die Augen der Zuhörer weiten sich gespannt. Ein Kind starrt den Mönch mit halb offenem Mund an. Rotz rinnt langsam.

2017

Sohlenquietschen, Kleingeldgerassel. „Nach Rom!“ Ich strecke der Stewardess mein verschwitzt- und zerknittertes Ticket entgegen. „Sie sind zu spät. Der Flugsteig ist geschlossen.“ Ächzen. Langsam lasse ich das Ticket sinken.

1510

„Doch da durch den sturmtosenden Himmel fährt ein Licht zu mir hinab, so grell und so schrecklich, dass ich in die Knie gehe. Und ich spüre, wie es mich für einen Augenblick ganz durchfährt und da weiß ich!“ Die groben Hände fahren durch die Luft. Weiter hinten beginnt ein Kind zu weinen.
„Gott hat mich zu sich geholt! Ich soll ein Mönch werden!“ Stille. Ehrfucht.

2017

„Aber … wir sind doch hier. Und …“ Ich deute hilflos durch die Glastür, hinter der ich den Bus sehen kann, in dem sich die Passagiere stapeln. Mit einem zynischen Auspuffstöhnen fährt der Shuttle ab. Ohne uns. Wir sinken auf die festinstallierte Wartebank. Ich spüre, dass mir Tränen in die Augen steigen. Wir haben uns doch so beeilt …

1510

Die Bauern winken, Luther bedankt sich für den Apfel, den er in seine Kutte gleiten lässt. Den hebt er sich für später auf.

2017

Geschlagen schleichen wir zurück. Durch den leeren Flughafenflur, durch die Sicherheitskontrolle. Ich spüre, dass uns Blicke folgen. Leises Getuschel. Ein mitleidvolles, stilles Raunen.

1510

Er denkt über den Blitzschlag nach. Nie wieder danach hat er eine solche Klarheit gespürt. Am Punkt größter Verzweiflung hat ihn eine Gewissheit durchfahren, wie sie im bis daher unbekannt war. Kopfschüttelnd blickt er auf die Füße. Dieselben Füße, aber ein anderer Luther.

2017

Wir haben versagt. Die Schlange war zu lang. Was tun? Aufgeben? Nein. So schnell kriegen sie uns nicht. Ich stehe vom Bordstein auf. „Wir gehen zum Schalter.“ Wir fliegen nach Rom. Komme was wolle. Mein Freund blickt mich mit blitzenden Augen an. Und fasst den Griff vom Rollkoffer. „Let’s do this“.

1510

Luther ist eingekehrt. Die Herberge riecht nach Holz und Rauch. Die knarzende Treppe hinaufgestiegen, das warme flackernde Licht malt Schatten an die Wände. Die Schlafkammer ist klein, aber gemütlich.

2017

Zwei Minuten später haben wir zwei Tickets für den nächsten Flug. Morgen früh. Selbe Zeit. Wir werden da sein. Pünktlich. Schweigend fahren wir zurück nach Hause. Grimmige Entschlossenheit im Blick.

1510

Luther dreht sich auf die andere Seite. Ist es nicht seltsam, das Schlafen in einem fremden Bett? Macht das nicht schon das Reisen aus? Ein anderer Ort, andere Geräusche. Er denkt über die morgige Wanderroute nach.

2017

Anorak abgeschmissen. Um 17.oo ins Bett. Warrior Mode. Um zwölf sind wir wieder wach. Bereit. Draußen regnets. Pah. Wir haben Schlimmeres erlebt.

1510

Der Morgen ist grau. Feine Tautröpchen setzen sich auf die filzige Kutte, glänzen im ersten Sonnenlicht. Sein Magen knurrt. Etwas Bewegung wird ihm guttun. Beherzt schreitet er aus. Einem neuen Tag entgegen.

2017

Es ist noch dunkel. Wir gehen zur Haltestelle. Wollen zum Nachtbus mit fünfmal umsteigen. Im blinkenden Licht drängt sich eine Gruppe Partygänger um ein leuchtendes iPhone wie um ein wärmendes Feuer. „Nee, 36 kommt der X zweier, der ist schon weg. Ich glaub der nächste müsste 44 …“
Mein nasser Finger klatscht auf die Anzeigetafel. Der Nachtbus. Fällt aus.
Der Regen ist stärker geworden. Meine Turnschuhe sind durchgeweicht. Aber immerhin halten die Mülltüten dicht, die wir um unsere Rucksäcke gewickelt haben. It’s not all bad.

1510

Luther steht unter einer großen Eiche, der Regen prasselt um ihn herum. Er blickt in die nebelverhangene Landschaft. Warmer Dampf, der von den Feldern aufsteigt. Der letzte Atem des Sommers. Ein malerisches Bild. Er holt den Apfel hervor, den er geschenkt bekommen hat. Er schmeckt nach Herbst. Süß und fruchtig.

2017

Zum Bahnhof gelaufen. Der Regio. Unsere letzte Chance. Er steht schon. Nichts wie rein da. Vorläufige Erleichterung. In mir brennt ein Feuer der Entschlossenheit.

1510

Der Schauer hat die Erde aufgeweicht, lässt alles duften. Luther weicht Pfützen aus, blickt kurz in seine eigenes, gewelltes Spiegelbild. 30. Ein wichtiges Alter. Das spürt er schon jetzt.

2017

Ausgestiegen, Koffer im Griff. Rein zum Check In. Ha! Ganz leer. Wir grinsen uns an. Schlängeln uns durch das leere Labyrinth von Absperrungen. Entspannt den Koffer aufs Rollband. Schuhe zieh ich gleich mal aus. Wollen sie meine Socken sehen? Sicher nicht? Wir haben noch Zeit! Ein Sicherheitsbeamter macht gnädig einen Sprengstofftest.

1510

Ein Karren rumpelt an ihm vorbei. Nasses Stroh. Grüßen, Reden, Luther darf ein Stück mitfahren. So sieht die Landschaft ganz anders aus. Zieht in lockerem Tempo und regelmäßigen Schlaglochstößen an einem vorbei. Perfekt, um über Rom nachzudenken.

2017

Wir teilen uns einen Kaffee. Haben wir Hunger? Wir wissen es nicht. Aber wir fühlen uns stark. Haben noch zweieinhalb Stunden. Bis der Flieger geht.

1510

„He, sie!“ Einer fuchtelt mit den Armen. „Hier wird ein starker Mann gebraucht!“
Ein Karren hat sich festgefahren. Das Pferd schnaubt und trampelt. Die Nüstern unruhig aufgebläht. Zwei Männer schieben schon von hinten, die nackten Füße in den Schlamm gestemmt. Erste Schneeflöckchen sinken vom weißen Himmel herab.

2017

Wir schieben uns genüsslich in die Sitzbank. Ein Fensterplatz war nicht mehr drin. Aber dafür nebeneinander. Wir sind zufrieden mit uns. Kopfhörer auf. Musik an. Reisen kann manchmal Spaß machen. Kurz nach dem Abheben sind wir beide eingeschlafen.

1510

Der Karren ächzt und quietscht, die Männer stöhnen. Luther spürt, wie unter der Kutte der Schweiß rinnt. Noch einen letzten Stoß. Und mit dem Ruck fasst das Rad ein Stück Weg. Das Pferd setzt wiehernd zum Trab an. Man lacht erschöpft, klatscht in die Hände.

2017

Ich blinzele, meine Beine sind eingeschlafen. Der Kopf meines Freunds rollt im sanften Takt des Flugzeugs hin und her. Wir setzen zum Landeanflug an.

1510

Seine Schulter schmerzt vom Stemmen. Der Karren hat ihn Zeit gekostet. Es ist kälter geworden.

2017

Rom ist heiß. Jemand hat die ehemaligen Aschenbecher im Flughafenshuttle als Kaugummi-Ablage umfunktioniert. So wie es aussieht, haben alle Reisenden, die nach ihm kamen, diesen Anstoß begeistert aufgenommen. Wir kichern. Gucken aus dem Fenster. Zeigen auf Läden die es bei uns auch gibt. Zeigen auf Läden, die es bei uns nicht gibt. Lachen über uns selbst. Lauter als unsere knurrenden Mägen.

1510

In einiger Entfernung entdeckt er eine Kirchturmspitze in die Luft ragen. Er zieht die Kapuze über den Kopf und schreitet schneller aus. Die Sandalen fangen an zu scheuern.

2017

Ich falle aufs federquietschende Bettgestell. Arme und Beine weit von mir gestreckt. Mein Freund macht den Ventilator an. Jetzt erstmal ne Pizza.

1510

Luther lässt sich auf die Strohmatratze sinken. Noch anderthalb Tage bis Ilmenau.

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