Liebe Leser*Innen, liebe Autor*Innen, Frühlings Erwachen von Isabelle Lehn soll den Anfang machen in meiner neuen Blogreihe über autobiografisches Schreiben. Das Buch ist 2019 bei Fischer, Frankfurt am Main erschienen.
Der Klappentext (Teil 1)
»Ich glaube an den Verstand, den freien Willen und die Kraft der Gedanken. Ich glaube an Biochemie, Serotoninmangel und erhöhte Entzündungswerte. Ich glaube an Alkohol und Penetration, an die Sehnsucht nach Selbstaufgabe und die Würde des Scheiterns. Ich glaube an die Wirksamkeit von Psychopharmaka – und sogar daran, ein schönes Leben zu haben.«
Der erste Teil des Klappentextes ist schon durchsetzt mit Worten die andeuten, dass es in dem Buch um jemanden geht, der über das übliche Maß hinaus psychische Probleme hat. Serotoninmangel, Selbstaufgabe, Psychopharmaka.
Ein Personal Drama
Mental Health Probleme sind in unserer Gesellschaft so verbreitet, dass auch schon die Bücher, die sich damit beschäftigen eine eigene Kategorie unter den autobiographischen Titeln bilden. Ich sage ausdrücklich Kategorie und nicht Genre, weil ich auch in dieser Reihe gerne bei dem engen Genrebegriff bleiben möchte, den Philipp Parker entwickelt hat, und den ich hier erläutert habe.
Wie oft bei autobiografischen Schriften, handelt es sich um ein Personal Drama. Die Ich-Erzählerin nimmt nahezu die gesamte Screentime ein. Das Thema, könnte man meinen, ist der der Wunsch nach Happiness, nach Glück. Dazu mehr in einem gesonderten Beitrag in der Reihe Genre, Thema, Stories.
Die Suche nach dem Glück
Wie könnte man Glück erreichen? Nun da gehen die Meinungen auseinander.
Isabelle Lehns Protagonistin spielt die Varianten anhand von Depression, Kinderwunsch, Sex, Liebe und Schriftstellerei durch.
Der biochemische Ansatz
Biologen würden vielleicht sagen, dass unser Wohlbefinden und Glücksempfinden von den biochemischen Abläufen in unserem Organismus abhängen. Die Protagonistin leidet offensichtlich unter latenten Depressionen. Da auch der Bruder psychische Probleme hat und längere Zeit in Kliniken verbringt, wird eine mögliche genetische Veranlagung suggeriert. Diesen vermeintlichen Defekt versucht die Protagonistin auszugleichen, indem die ihren Serotoninhaushalt beeinflusst. Regelmäßig nimmt sie Antidepressiva, vergisst sie dann immer mal wieder oder setzt sie bewusst ab. Nichts macht sie glücklicher.
Der evolutionäre Ansatz
Andere wieder glauben, dass Glück erst entsteht, wenn man es schafft, seinem Leben einen Sinn zu geben. Hier kommt dann der unerfüllte Kinderwunsch ins Spiel. Und auch hier setzt die Protagonistin wieder auf äußere Hilfsmittel und Maßnahmen. Hormongaben, künstliche Befruchtung, überflüssige Operationen. Nichts hilft. Beim Lesen denkt man vielleicht, gut so. Denn nichts deutet daraufhin, dass die Protagonistin ihrem Leben durch ein Kind wirklich Sinn geben wollte oder könnte.
Der sensorische Ansatz
Dann wäre da Liebe und Sex. Das eine mag hier für das glücklich machende Geborgensein in einer Beziehung, einer Gemeinschaft stehen, das andere für den glücklichmachenden körperlichen Kick. Auch das funktioniert nicht wirklich. Auf die Beziehung zu ihrem Freund, einem Jazzmusiker, läßt sich die Protagonistin nicht wirklich ein. Immer wieder unterläuft sie den eigenen Wunsch nach Geborgenheit durch das, was man Fremdgehen nennen würde. Wobei es auch immer mal wieder zu besoffenem Schmuddelsex kommt. Am Ende geht diese fragile und gebeutelte Beziehung dann auch auseinander.
Der New Age Ansatz
Sollte man Glück finden, wenn man auf seine innere Stimme hört, wie es New Age Anhänger propagieren? Wenn man sich erkennt, und seinen wahren Bedürfnissen folgt? Dann ist die Protagonistin weit vom Glück entfernt. Immer wieder startet sie Aktionen, die geeignet sind, ihr selbst zu schaden. Ihre innere Stimme scheint ihr nur Müll zu erzählen und immer zu dem zu raten, was sie nun gar nicht brauchen kann. Vielleicht aus diesem Grund spielen auch die äußeren Stimmen für Lehns Protagonistin eine viel größere Rolle, als ihre innere Stimme.
Der buddhistische Ansatz
Nun das wäre wohl die Haltung, endlich die Jagd nach Glück aufzugeben. Sich nicht von jeder schlechten Emotion abzulenken, sie vermeiden zu wollen. Nicht jedem guten Gefühl nachzujagen und es festhalten zu wollen. Genausowenig geht es in Meditationsübungen darum, seiner inneren Stimme zu folgen, seine wahren Bedürfnisse zu erkennen und ihnen zu folgen. Es geht einfach darum zu sitzen und zu beobachten.
Vielleicht, ganz vielleicht, hat die Autorin Isabelle Lehn einen Schritt in diese Richtung getan, während sie dieses Buch geschrieben hat. Die wechselnden Gedanken und Gefühle auftauchen zu lassen, zu beobachten, zu beschreiben und gehen zu lassen. Vielleicht. Die Protagonistin Isabelle Lehn ist jedenfalls davon weit entfernt.
Das Bedürfnis nach Anerkennung
In dem Buch geht es auch nur vordergründig um das Finden des Glücks. Das Thema scheint mir vielmehr das Bedürfnis nach Anerkennung, nach self validation zu sein. Wir kennen alle das Bedürfnis, die eigene Persönlichkeit, die eigenen Entscheidungen in den Kontext mit den Menschen, mit denen man lebt, zu stellen. Darum geht es bei diesem Thema. Dem Streben nach Anerkennung, Wie wohl jeder von uns hat auch die Protagonistin hat ein großes Bedürfnis, ihre Einzigartigkeit mit den Menschen um sie herum abzugleichen. Anerkennung zu bekommen. Und sie versucht es, indem sie auf die äußeren Stimmen hört, auf die der Mutter, auf die der anderen Schwangeren, der Ärzte und Therapeuten, der Agentin, Lektorin und der Schriftstellerkolleginnen und manchmal sogar auf die ihrer Leserinnen.
Das kollidiert aber immer wieder mit der ihrer Einzigartigkeit, die sie manchmal aus den Augen verliert, wenn sie wieder versucht, sich anzupassen an die Vorstellungen und Ansprüche anderer. Die Protagonistin glaubt an ein »gelingendes Leben«. Aber sie fragt sich nicht wirklich, was sie möchte. Ein gelingendes Leben scheint für sie ein Leben zu sein, dass von anderen abgesegnet wird. Sie sucht das Glück über die Anerkennung durch andere. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es sich dabei um den vermeintlichen Kinderwunsch, die latente Depression oder die Schriftstellerei handelt.
Der Klappentext (Teil 2)
Die Schriftstellerei nimmt einen Großteil des Buches ein. Und zwar sowohl der künstlerisch inhaltliche Aspekt, als auch der sozial geschäftliche Aspekt.
Das Leben ist gut – solange wir es nicht daran messen, wie wir es uns vorgestellt haben. Isabelle Lehn schreibt über eine Frau namens Isabelle Lehn. Poetisch, selbstironisch und umwerfend offen.
Der zweite Teil suggeriert beim flüchtigen Lesen, dass es sich um einen autobiographischen Text handelt. Aber Isabelle Lehn schreibt eben nicht über sich, sondern über eine Frau, die ihren Namen trägt (und die einen autobiographischen Roman schreibt). Die Reflexion des Schreibprozesses als Stilmittel autobiographischer Texte ist das erste Stilmittel, auf das ich in diesem Beitrag aufmerksam machen möchte.
Authentizität und Fiktion
Der aus meiner Sicht interessanteste Aspekt des Buches ist das durchgehende Spiel mit den Realitätsebenen, die Reflexion über Authentizität. Im Zusammenhang mit Isabelle Lehns Buch fällt immer wieder der Begriff Autofiktion. Dichtung und Wahrheit also. Die Protagonistin heißt Isabelle Lehn, wie die Autorin, ist auch 37 Jahre alt, promoviert und Schriftstellerin. Es liegt nahe, sie mit der Autorin gleichzusetzen. Man könnte glauben, dass Isabelle Lehn wirklich ihr Innerstes, dass sich schreibend nach außen stülpt, bevor es in die Kloschüssel fällt, offenbart. Aber sie baut immer wieder Reflexionen ein, die dem Leser klarmachen, das ist ein Buch, Fiktion. Vadim, der Freund (wenn es ihn im echten Leben denn gibt) möchte in dem Buch gern Jazzmusiker sein. Warum also nicht? Ist er halt Jazzmusiker.
Ist es genauso mit der Hauptfigur? Isabelle Lehn zitiert Virginia Woolf mit dem Satz »Ich schreibe in der ersten Person, aber ›ich‹ ist nur ein zweckmäßiges Wort für jemanden, den es nicht gibt.« Die Konstruktion eines »Ich« durch Sprache gilt nun allerdings auch wieder sowohl für die reale Autorin, wie für die Protagonistin. Wie schon Hitch, the Date Doctor wusste: ›You‹ is a very fluid concept right now.
Die Reflexion des Schreibprozesses
Aus meiner Sicht gelingt Isabelle Lehn dieses Vexierspiel mit der Identität von Autorin und Protagonistin am besten in den Passagen, in denen sie die Entstehung des Buches beschreibt. Sie begleitet nämlich nicht nur der Schreibprozess, die Lektoratssitzungen, und die Herstellung des Buches. Dabei werden auch die Zeitebenen ins Unmögliche gegeneinander verschoben. In einer sehr schönen Passage beschreibt sie die Reaktion einer empörten Leserin auf einer Lesereise. Hier erlebt die Protagonistin Isabelle Lehn die Reaktion auf das Buch, an dem die Autorin Isabelle Lehn noch schreibt.
Im Grunde ein althergebrachtes Stilmittel, das die Romantiker als »Ironie« bezeichnet haben. Schlegel nennt es Das Produzierende mit dem Produkt darstellen. In diesem Sinne reflektiert Isabelle Lehn die Produktionsbedingungen eines Buchs im Buch selbst.
Ein besonders schönes Beispiel
Die Protagonistin Isabelle Lehn sitzt bei ihrer Lektorin und findet: ein bisschen Verwirrung kann der Leser ertragen. (…) er dürfte sich sogar fragen — ist sie in echt nicht einmal depressiv? Wer jetzt die Protagonistin oder die Schriftstellerin? Die Lektorin in dem Buch (und vermutlich auch die echte) ist sich sicher: Sie muss echt depressiv sein. Wieso sollte man das Buch denn sonst lesen? Und hat dann auch eine weitere Idee: Wir könnten sagen, dass erst das Buch ihr weiterzuleben ermöglicht.
Wir sind hier also beim Marketing. Kann man das Buch verkaufen, wenn der potentielle Leser denkt, dass die ganze Geschichte nur frei erfunden ist. Die Lektorin zeigt auf die eine Narbe an der Stirn der Protagonistin. Aber die Narbe, sagt sie, die Narbe ist echt! Und sie einigen sich, um die Authentizität des Romans zu erhöhen auf ein Autorenporträt, auf dem die Narbe an der Schläfe zu sehen ist. Seht selbst.
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