Autobiographisches Schreiben

AUTOBIOGRAPHISCHES SCHREIBEN – #6 ANNIE ERNAUX

24. Juli 2019
Annie Ernaux

Liebe Autor*innen, liebe Leser*innen, heute geht es in der Reihe über autobiographisches Schreiben um die »Erinnerung eines Mädchens« von Annie Ernaux.

Das Buch ist 2016 in Frankreich unter dem Titel Mémoire de fille erschienen, die deutsche Übersetzung von Sonja Finck, im letzten Jahr bei Suhrkamp.

Annie Ernaux

Auf dem Umschlag ist zu lesen, dass »Die Zeit« Annie Erneuax für die »Die Königin der neuen autobiographischen Literatur« hält. Hier soll es aber nicht um eine literarische Bewertung gehen und schon gar nicht darum, eine Weltrangliste der besten autobiographischen Autor*innen zu erstellen. Ich möchte dagegen fragen, was macht das Buch für diese spezielle Blogreihe interessant?

Der Anlass

Zunächst einmal nimmt Annie Ernaux ein einziges, weit in der Vergangenheit liegendes, traumatisches Erlebnis zum Anlass des Buches.

Es gibt also einen ganz anderen Zeitrahmen als in den bisher hier vorgestellten Büchern von Isabelle Lehn, Alina Bach und Merethe Lindstrøm. Ich möchte deswegen zunächst einmal auf die Zeit in autobiographischen Texten eingehen.

Isabelle Lehn und auch Merethe Lindstrøm schreiben nahezu in Echtzeit über die Zeit, in der sie an ihren Büchern arbeiten. Es sind ihre aktuelle Lebenssituationen, über die sie schreiben. Die dargestellte Zeitspanne deckt sich daher auch in etwa mit der Zeit, die während des Schreibens vergeht.

Doch während Merethe Lindstrøm immer wieder die Zeitebenen wechselt, indem sie lange Passagen aus der Kindheit der Protagonisten einflicht, gibt es bei Isabelle Lehn Passagen, die aus einer imaginierten Zukunft stammen, in der sie mit dem Buch, an dem sie gerade schreibt, schon auf Lesereise ist.

Bei Alina Bach spielt zwar auch eine traumatische Erfahrung, nämlich der psychische Zusammenbruchs ihres Lebenspartners, eine Rolle. Er ist der Ausgangspunkt, der Anlass für das Buch. Sie beschäftigt sich aber in der Erzählung nicht mit der Analyse, der Aufarbeitung und den Ursachen dieses Zusammenbruchs, sondern sie beschreibt aus einem kurzen zeitlichen Abstand heraus das Drama der folgenden Jahre, die von den Auswirkungen dieses Zusammenbruchs geprägt sind.

Die Zeit bei Annie Ernaux

Anders bei Annie Ernaux. Das Ereignis, um das es in dem Buch geht, liegt zu der Zeit, als sie endlich darüber schreiben kann fünfundfünfzig Jahre zurück. Alle früheren Versuche, darüber zu schreiben, gibt sie immer wieder auf.

Es gibt einen exakten Zeitpunkt, an dem das Ereignis stattgefunden hat, nämlich die Nacht vom 11. auf den 12. September (1958  und es hat) ungefähr anderthalb Stunden gedauert.

In dieser Nacht ist die damals gerade Achtzehnjährige von einem wenige Jahre älteren Vorgesetzten, wenn nicht vergewaltigt, dann doch rücksichtslos missbraucht worden. Im Klappentext heißt es dazu: Und Annie ist in H verliebt, mit ihm hat sie ihr erstes Mal. Die Nacht, weit entfernt von den romantischen Fantasien des Mädchens aus katholischem Hause, bedeutet einen anhaltenden Schock.

Trotz der Erfahrung dieser Nacht möchte sie die Liebe Hs gewinnen. In ihrer Naivität macht sie ihm das zweifelhafte Kompliment, er sei der zweitattraktivste Mann in der Ferienkolonie, in der sie beide arbeiten.

Dazu im Klappentext: weil H sie fortan ignoriert, weiß sie nicht, wohin mit sich, und läßt sich auf andere ein. Schnell ist sie verfemt. Was folgt, sind Ausgrenzung, der Hohn der anderen, ihre eigene Scham.

Annie Ernaux erzählt, erforscht Ereignisse, Erlebnisse eines weit zurückliegenen Sommers und der folgenden Jahre, in denen sie sich zunächst erhofft, H im nächsten Sommer wiederzutreffen. Bis dahin möchte sie sich für ihn in eine attraktive, liebenswerte, unwiderstehlich begehrenswerte Person verwandeln, bis sie feststellen muss, dass sie nicht wieder in der Ferienkolonie angestellt werden wird.

Die Perspektive bei Annie Ernaux

Es ist sicher nicht nur der große zeitliche Abstand, sondern auch das Trauma der Ereignisse, die Annie Ernaux zu der Frage führt, ob sie unter diesen Umständen das Mädchen von 58 und die Frau von 2014 zu einem »Ich« verschmelzen (soll). (…) oder beide voneinander trennen, sie in ein »sie« und ein »ich« aufspalten?

Annie Ernaux unterscheidet zwischen dem 18-jährigen Mädchen von 1958 und der 75-jährigen Frau, die jetzt ein Buch über die damaligen Ereignisse schreibt. Reflektiert die Distanz.

Sie entscheidet sich für eine ungewöhnliche Perspektive. Und schreibt in der dritten Person im Präsens über die 18-jährige. Gleichzeitig in der ersten Person, Präsens über die 74-jährige, die an ihrem Schreibtisch sitzt und sich erinnernd dieses Mädchen beobachtet.  Schreibend dissoziiert sich Annie Ernaux von dem Mädchen, dass sie damals war. Als wäre der durchgehende Faden der Geschichte irgendwo gerissen.

Diese Distanz erleben wir ja alle selbst schon, wenn wir uns ältere Fotos von uns ansehen und nicht verstehen, wie wir diese Mode oder diese Frisuren tragen konnten. Trotzdem empfinden wir eine Kontinuität unseres selbst. Wir sind uns fremd, aber wir erkennen uns auch wieder. Wir sprechen uns vermutlich nicht in der dritten Person an, sondern fragen uns »wie sehe ich denn da aus?«

Annie Ernaux sieht den Zweck einer Selbsterzählung darin, sich der eigenen Kontinuität zu vergewissern. Aber sie hat auch Angst davor. Sie schreibt von dem Verdacht, die Figur der Schriftstellerin (…) aufs Spiel zu setzen, um ihr Schaden zuzufügen, um den Betrug zu entlarven, im Sinne von ›ich bin nicht die, für die ihr mich haltet‹ Das ist an ihr großes literarisches Publikum gerichtet.

Vielleicht meint sie aber auch – und das ist nur eine Mutmaßung – ›ich bin nicht die, für die ich mich halte‹. 

Der Perspektivwechsel zwischen der ersten und der dritten Person ist jedenfalls ein starkes Mittel gleichzeitig die Kontinuität zu beschwören und die Distanz zu halten.

Die Sinnstifter im Hirn

Ich glaube, dass Annie Ernaux irrt, wenn sie schreibt, dass einer Selbsterzählung, mit der man sich der eigenen Kontinuität vergewissern will, immer etwas Entscheidendes fehlt: Die Tatsache, dass man in dem Moment, wo man etwas erlebt, nicht versteht, was man da gerade erlebt …«

Richtig: es ist der Zweck jeder Erzählung, Erlebnissen irgendeine Form von Sinn, von Kontinuität zu geben.

Es ist allerdings wohl nicht so, dass man nicht versteht, was man gerade erlebt, sondern, dass dieses Verstehen einer ständigen Wandlung unterworfen ist. Dass man es im Rückblick anders interpretiert, bewertet. Aber eben auch dann wieder nicht allgemeingültig, für immer richtig.

Die aktuelle Hirn- und Bewusstseinsforschung scheint nahezulegen, dass unterschiedliche Bereiche in unseren Hirnen dafür zuständig sind, Dinge zu empfinden, zu erleben und diesen Empfindungen, Erlebnissen dann Sinn zu geben. Wir haben sozusagen einen Hirnbereich, der ununterbrochen damit beschäftigt ist, aus einzelnen sukzessiven Erlebnissen eine plausible Story zu entwickeln. Dem Erlebten Sinn zu geben.

Der Hirnbereich, der auf der einen Seite nur für Empfindungen, Erlebnisse zuständig ist, erinnert nichts, wertet nicht, trifft keine Entscheidungen. Das macht erst das erzählende Selbst auf der anderen Seite.

Die Macht des Schreibens

Ernaux beschreibt, dass sie H googelt, während sie an dem Buch schreibt. Und ihn auch ausfindig macht. Sie findet ein Foto seiner Goldenen Hochzeit. Darauf erkennt sie ihn. Das Foto zeigt ihn umringt von einer Schar von Freunden, Verwandten Kindern, Enkeln und Urenkeln neben seiner Frau stehend.

Sie überlegt, ob sie Kontakt zu ihm aufnimmt, entscheidet sich aber dagegen und  schreibt: Ich beneide ihn nicht, ich bin es, die schreibt.

Sie spürt die Macht, die im Schreiben liegt.

Dabei ist es ja nicht so, dass eine (normales) Leben als Ehemann und Familienvater, das H offensichtlich führt, per se weniger beneidenswert ist, als das einer Schriftstellerin.

Aber sie entscheidet darüber, wie sie die Geschichte, auch seine, erzählt. Welche Interpretation sie dem Erlebten gibt. Welchen Platz, welche Funktion er in der, in ihrer Geschichte einnimmt.

Auch H wird eine Erzählung der Ereignisse von 1958 im Kopf haben. Wenn auch nicht schriftlich. Vielleicht hat er sie auch weitgehend verblassen lassen, sie bis zur Unkenntlichkeit verdreht oder gänzlich verdrängt. Aber auch er wird sie sofort interpretiert haben. Und auch er wird diese Erzählung weitergesponnen, umgestaltet, angepasst haben. Mit dem Unterschied, dass seine Erzählung mit dem Mainstream der Zeit korrespondierte. Und dass er unter dem Mainstream vermutlich nicht so sehr gelitten hat wie Annie Ernaux.

Als diejenige, die schreibt, und zwar nun auch öffentlich in einem Buch, ist allerdings Annie Ernaux diejenige, die die narrative Hoheit über das gemeinsam Erlebte hat.

Das Schreiben gibt ihr Macht. Macht über die Interpretation des Geschehenen. Dabei ist es nicht unerheblich, dass sie das, was sie schreibt, auch veröffentlicht.

So, wie es für die MeToo Bewegung wichtig ist, dass die Diskussion öffentlich geführt wird.

Bis dahin

Uwe

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