Liebe Autor*innen, liebe Leser*innen, heute geht es in der Reihe über autobiographisches Schreiben um Wider die Kunst von Tomas Espedal in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, erschienen 2015 in gebundener Form und als E-Book bei Matthes und Seitz, Berlin. 2009 erschien die norwegische Originalausgabe Imot Kunsten (notabøkene).
Der Zusatz (Die Notizbücher) findet sich nicht auf dem Umschlag, sondern erst auf der Haupttitelseite im Buch. Auch auf der Taschenbuchausgabe von Suhrkamp 2017 fehlt der Zusatz auf dem Umschlag. Mag sein, dass das eine Marketingentscheidung ist. Vielleicht fand man den Begriff Notizbücher nicht verkaufsfördernd. Weil es sich so unfertig anhört. Wie schnell aufgeschrieben, mal eben notiert.
Notizen
Materialien zu dem Buch hatte Espedal in Norwegen schon zwischen 1999 und 2005 unter den Titeln Biografi (glemsel), 1999, Dagbok (epitafer), 2003 und Brev Brev (et forsøk), 2005 herausgebracht. Auch hier wieder mit Zusätzen in Klammern (deutsch: Vergessenheit, Epitaph und ein Versuch). Diese drei Bücher sind dann 2017 von Matthes und Seitz dankenswerterweise in einem Band: Biografie, Tagebuch, Briefe zusammengefasst worden.
Hier handelt es sich wirklich noch mehr um tagebuchartige Notizen, Gedanken, alltägliche Beobachtungen und imaginäre Brieffetzen. Ich habe es nicht von vorn nach hinten gelesen, sondern hin und hergeblättert. Manches mehrmals gelesen, manches sicher verpasst.
Alles dreht sich um den schreibenden oder nicht schreiben könnenden Schriftsteller.
Wir hatten es schon bei Merethe Lindstrøm, Thomas Melle, Isabelle Lehn etc. gesehen: Wenn Autoren autobiographisch schreiben, schreiben sie auch immer über das Schreiben. Über den Schreibprozess. Kein Wunder, nimmte es ja auch einen großen Teil ihrer Lebenszeit ein, braucht einen großen Teil ihrer Lebensenergie auf.
Wider die Kunst ist sicher das kohärentere Buch. Dennoch hat den Zusatz (Notizbücher) verdient. An einer Stelle in Biografie, Tagebuch, Briefe macht Espedal deutlich: Schon vor langem habe ich aufgehört, Bücher zu schreiben. Ich schreibe, das ist alles.
Worum geht es in dem Buch?
Im Klappentext steht:
Zwei Schicksalsschläge erschüttern das Leben des norwegischen Autors Tomas Espedal: Zuerst verstirbt seine Mutter, kurz darauf auch seine Frau Agneta. Die Verluste verlangen ihm eine neue Art zu leben ab, denn er bleibt mit seiner jüngsten Tochter, der pubertierenden Amalia, allein zurück. Trost kann er dem Mädchen nicht spenden, und auch der verzweifelte Versuch, ihr die Mutter zu ersetzen, ist zum Scheitern verurteilt. Espedal beginnt Halt zu suchen in der Erkundung seiner Familiengeschichte.
In manchmal sehr poetischen und aufgeladenen Bildern in einer starken Sprache mäandert das Buch um den väterlichen proletarischen und den aufstrebenden kleinbürgerlichen Zweig der Familie Olsen/Espedal. Prügelnde Jungs, ehrgeizige Großmütter, unnahbare, angsteinflößende Großväter, müde, überarbeitete Väter. Ein facettenreiches Bild, das sich auf Erzählungen, Erinnerungen, Fotos stützt.
Am Rand der Fiktion
Aber Espedal beschreibt auch immer wieder Situationen, die seiner Vorstellung entsprungen sind. Er hat vielleicht einen Anhaltspunkt, ein Foto, die Erzählung eines Verwandten. Und diese malt er dann aus. Er stellt sich vor, wie es gewesen ist, ruft Bilder ab aus seiner Imagination. Macht sich Gedanken, wie die Vorfahren miteinander umgegangen sind, was sie gefühlt haben.
Wenn er etwa beschreibt, wie der Urgroßvater mit seiner viele Jahre jüngeren, — sie hätte seine Tochter sein können — Geliebten in ein Hotelzimmer geht, um mit ihr zu schlafen. Er wechselt in ihre Perspektive. In ihre Gefühle, Ängste.
sie blickte aufs Bett, das große Bett, als wäre das Bett die Rettung, sie wollte sich drauflegen, sich darin verbergen, die Decke über sich ziehen und schlafen. Ich will in meinen Kleidern schlafen, sagte sie. Sie legte sich ganz dicht an den Bettrand. Er lag hinter ihr, hinter ihrem Rücken in seiner uniform. Sie konnte seinen Atem hören, war er dabei einzuschlafen? Sie schloss die Augen. Spürte , wie er ihr die Strümpfe und Unterhose auszog. Wie er ihren Rock hochzog und …
Das ist dann ein unmerklicher Übergang zu Fiktion. Bekennt aber auch gleich wieder, so stelle ich es mir vor.
So kann es gewesen sein, so muss es gewesen sein.
Sie war verliebt; ich glaube sie war verliebt, sie muss in ihn verliebt gewesen sein.
Dank der wunderbaren Sprache ist es ein Genuss, Espedal zu lesen. Eine neue Sicht auf die kleinbürgeliche Welt im zwanzigsten Jahrhundert, auf die Mühen, die Freuden, den Trost des Schreibens habe ich allerdings nicht erlebt. Ganz anders als übrigens bei der Lektüre Peter Handkes, auf den sich Espedal an zwei Stellen bezieht. Er hat meine Sicht auf die Welt, die kleinen Dinge, die Menschen immer wieder geschärft und verändert. Allerdings auch zwanzig Jahre früher.
Verpasste Gegenwart
Dabei fängt das Buch mit einem großartigen Geständnis an. Schon auf der zweiten Seite gesteht und reflektiert Espedal einen fürchterlichen Faux Pas:
Wir erinnern uns: Er hatte seine Mutter verloren und kurze Zeit später hatten seine Töchter nicht nur eben diese Großmutter, sondern auch ihre eigenen Mutter verloren. Espedal kehrt als unbekannter Vater zurück und zieht zu der Fünfzehnjährigen, um sich um sie zu kümmern. Sie sind sich fremd:
Ich wusste nicht, was ich sagen, wie ich sie trösten sollte, alles, was ich sagen konnte, das Erste, was ich sagte, als ob ich ein Kind wäre, als ob keine Altersunterschied zwischen uns wäre, als ob ich wollte, dass sie mich tröstete und wir einander in gemeinsamer Trauer umarmten, zwei Gleichgesinnte im selben Alter, als ob ich sie im Laufe einiger weniger wortloser Minuten zu einer Erwachsenen gemacht hätte, zu meiner künftigen Lebenspartnerin, meiner Hoffnung; sie hörte es und drehte sich weg, wütend und erschrocken, es war kein Trost, das Erste, was ich sagte, war: Wir haben keine Mutter mehr.
Er erkennt die Hilflosigkeit, ja Übergriffigkeit dieses Satzes. Aber statt sich in der Gegenwart, in der schwierigen Situation dieser vervielfachten Trauer und des Verlust, aufzuhalten, darüber zu schreiben, flüchtet er in die gut abgehangene Vergangenheit und ins Schreiben. Das ist sein gutes Recht. Nur mich als Leser hat es enttäuscht.
Ich hätte viel lieber mehr über das gegenwärtige Leben mit der Tochter erfahren. Über den Umgang mit der Entfremdung, das Aufarbeiten der Distanz, die Versuche, das Scheitern, das sich Abfinden oder das Wachsen zweier Menschen, die plötzlich aufeinander geworfen sind. Auf der vorletzten Seite des Buchs kauft er ihr eine rosa Daunenjacke und ein paar Jeans (die sie umtauschen will), ein paar wasserdichte Stiefel die sie umtauschen will) und ein paar weiße Turnschuhe (…) bevor er in den Buchladen geht Ovids Metarmorphosen kauft und was ich zum schreiben brauche, Farbbänder, Korrekturbänder für die Schreibmaschine, zwei Kugelschreiber, Tipp-Ex und vier Notizbücher.
Die Tagline
Auf den Verlagseiten wird dem Klappentext, sozusagen als Tagline die Frage vorangestellt: Was bleibt, wenn die Geliebten fort sind?
Espedals Buch legt diese Frage wirklich nahe. Die Geliebten sind fort, seine Mutter und seine von ihm getrennte Frau. Die Mutter seiner Tochter. Von Liebe zur dieser Tochter, den Töchtern ist im Buch nichts zu spüren. Pflichtgefühl, eine Art von Verantwortung. Kochen, Putzen, Brote machen. Wie geht man damit um? Jetzt in der Gegenwart.
Anmaßender Satz: Das Buch hätte ich gern gelesen.
Uwe
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