Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.
Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.
#5 Stalking
— 1973
Nur einmal in der Woche …
kann ich sie in Bobby Linden’s Tanzschule sehen. Dann jedesmal in den blankgeputzten, extra angeschafften, weinroten Schuhen mit den glatten Ledersohlen zu ihr über das Parkett schlindern, damit nur nicht jemand anders sie auffordern kann. Ob sie das überhaupt gut findet? Ich weiß es nicht.
An den anderen Tagen zähle ich jedenfalls die Stunden -mit Gilbert O’Sullivan im Ohr. Get down. Rück-, Vor- Wechselschritt.
Manchmal halte ich es nicht aus, steige auf mein Fahrrad, fahre eine Dreiviertelstunde die unbekannte Strecke nach Stiepel in die Straße, in der sie wohnt, obwohl ich ihre genaue Adresse nicht weiß. Was denke ich mir dabei? Ich hoffe, sie zu treffen, irgendwie zufällig. Vielleicht läuft sie ja einfach auf ihrer Straße nach Hause von irgendwoher, oder kommt aus einem der Häuser, um irgendwohin zu gehen, oder vielleicht sogar mit ihrem Fahrrad zu fahren. Aber was dann? Was würde ich dann sagen? Weswegen sollte ich in ihrer Straße rumfahren? Keine Ahnung. Aber sie kommt auch gar nicht aus ihrem Haus. Schließlich fahre ich zurück, beinahe erleichtert. Wieder ein paar Stunden geschafft.
Folkwang
Ich bin so besessen, dass ich die Schule schwänze, um ins Folkwangmuseum zu fahren. Und nur weil sie in der Tanzstunde erwähnt, dass sie einen Schulausflug dorthin macht. Es ist das erste Mal, dass ich überhaupt in ein Kunstmuseum fahre. Aber warum nicht? Dort kann ich doch einfach sein, mir zufällig auch die Ausstellung ansehen. Jeder kann ins Folkwangmuseum, das kann mir niemand verbieten. Ist doch ganz normal, ins Museum zu gehen, so für sich allein, am Vormittag.
Sollte ich mir nicht besser vorher eine neue Jeans kaufen? Eine Levis oder eine Wrangler, was fände sie wohl besser? Ich nehme eine extrem hellblaue. Dann kommt sie mir doch zu hellblau vor. Aber egal. Die ist es jetzt. Wird sie die Jeans gut finden? Ich meine, wird sie mich gut finden in meiner neuen Jeans?
Erst als ich in Essen am Hauptbahnhof bin und die endlose Rüttenscheider Straße zum Museum hochlaufe, wird mir klar, dass ich kaum eine Chance habe, sie dort im Museum zu entdecken. Außerdem weiß ich nicht einmal, um wieviel Uhr sie dort sein wird. Mit ihrer Klasse. Ich treffe sie natürlich nicht. Bin vielleicht sogar wieder etwas erleichtert. Hätte sie überhaupt ihre Klasse verlassen dürfen, um mit mir durch die Ausstellung oder in die Cafeteria zu gehen? Hätte sie das überhaupt gewollt? Was hätten ihre Freundinnen gesagt? Stell dir vor, was die Jungs gesagt hätten. Ich habe keine Ahnung, ob überhaupt Jungs in ihrer Klasse sind.
Minne
Stattdessen stehe ich allein vor dem Brunnen mit den zarten, zerbrechlichen, knienden Knaben von Georg Minne, die so verletzlich aussehen, wie ich mich fühle. Wenn Jungs in ihrer Klasse wären, würden sie sich über diese Knaben schlapplachen. In einer Jungsgruppe muss man sich darüber lustig machen, über die schmalen Bübchen mit ihren kleinen Pimmelchen. Hätte ich vermutlich auch gemacht. Aber ich bin ja allein. Ich traue mich weiter, jetzt sicher, dass hier keine Schulklasse ist, oder? Vielleicht im Untergeschoss? Geht es da noch weiter? Nein, hier ist es ruhig. Eine Schulklasse würde ich doch hören. Hier sitzen nur die Wärter. Beobachten die mich? Sehe ich aus, wie jemand, der in ein Museum geht? Der schulfrei bekommen hat, weil er vielleicht ein Referat schreiben soll, über eine Bild. Was denken die? Egal.
Ecce Homo
Ich biege um eine Ecke und stehe plötzlich wirklich in einer Menschenmenge. Sie recken ihre Hälse, einer klettert an einem Mauervorsprung hoch, um besser sehen zu können, einer hebt sein nacktes Kind hoch, schaut es an, ob es auch gut sieht. Ob es den Mann sieht, der dort vorgeführt wird, auf den gezeigt wird. Der hat was falsch – oder noch schlimmer – etwas Falsches gemacht. Und alle sind auf dem Bild. Und ich bin mitten unter ihnen und schaue auch auf diesen Mann, wie er da steht, mit seinen gefesselten Händen und der Dornenkrone. Und wie er ganz ruhig in die Menge blickt. Ich schaue hoch zu ihm und mit ihm herunter. Ich bin keiner von denen, die auf den Mann zeigen. Das Bild heißt Ecce Homo und ist von Honoré Daumier, steht auf dem Schild. Nach drei Jahren Latein vermute ich, dass es lateinisch ist. Ecce Homo. Aber was es heißt, keine Ahnung, glauben die auf dem Bild, dass Jesus schwul ist. Googeln geht nicht. Das kommt erst dreißig Jahre später. Und da habe ich längst an der Akademie studiert und kenne mich aus.
Der Steinbruch
Ich gehe weiter und sehe zum ersten Mal den Steinbruch von Cézanne. Ich bin mir nicht sicher, ob mir da gleich klar ist, dass ich so etwas machen möchte. Solche Bilder malen mit dicken Strichen. Malen. Geht das? Könnte ich das machen? Mein Leben lang machen?
Zu Hause liege ich auf meinem Bett, kann ein paar Stunden abstreichen, bis zu nächsten Tanzstunde. Kopfhörer. Crocodile Rock.
Ich bin über beide Ohren verliebt, aber nicht über den Verstand. Während Elton John auf das Klavier hämmert, sehe ich die Bilder wieder vor mir, den Steinbruch, den Lastenträger, den Menschen mit der Dornenkrone. Sehe ich mich malen.
Ahne ich da schon, dass das nicht die Liebe meines Lebens ist? Weiß ich da schon, dass ich sie finden werde?
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