Autofictional Shorts

#19 Der kleine Junge

4. November 2020
Uwe Carow Autofiction

Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.

Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.


 #19 Der kleine Junge

— 1964

Der kleine Junge hat eine schöne Kindheit in einem großen Garten.

Der kleine Junge wird so selten geschlagen, dass das eine Mal, das über eine spontane Ohrfeige hinausgeht, zur Legende wird. Weil Mama dabei eine Kochlöffel zerschlägt, auf seinem Rücken. Er war auch patzig, das weiß er, und hält sich die Hände über dem Kopf.
–Ich verkaufe dich an die Zigeuner.

Der kleine Junge weiß auch, dass sie ihn lieb hat, eigentlich. Und dass das nicht stimmt, wenn sie es auch ständig wiederholt. Trotzdem ist er immer etwas in Alarm. Und volle Panik, wenn es klingelt und sie kommen, um etwas zu verkaufen. Am Fenster sieht er, sie haben oft kleine Kinder mit dabei. Aber die sind nicht gekauft. Bestimmt nicht. Und nur einmal zerrt sie ihn am Arm zur Tür. Doch da sind sie schon weg.
Und sie sperrt ihn nie im Badezimmer ein. Denn er wirft sich ja auch nicht hin, wie die kleine Schwester, wenn sie wütend ist und auf dem Boden trisselt. Das macht ihm etwas Angst. Und er klettert dann von außen auf den Mauersims, um ins Bad zu gucken. Will er sie beruhigen, erschrecken, trösten oder einfach sehen, ob sie noch lebt? Er weiß es nicht genau.

Der kleine Junge in seinem hellblauen Strickpullover, in seiner kurzen Hose, und seinen gestreiften Cordpantoffeln will ihr eine Hilfe sein. Ist allein. Ein gelbes Staubtuch in der Hand, mit feinen roten Streifen. Traurigkeit hüllt ihn sanft ein. Und füllt ihn aus. Sitzt ihm im Nacken, auf der Stirn und hinter seinen Augen. Ganz zart ist sie nur da, sie schüttelt ihn nicht heftig. Da ist kein Schmerz, nur Traurigkeit. Wieso? Alles muss nur sauber sein und ruhig. Er auch, nicht wild, nicht draußen, Staub wischen ist gut, obwohl er spürt, dass es nicht reichen wird. Erst um die Blumentöpfe auf der Fensterbank. Und auch die großen Blätter. Sie wird nicht fröhlich sein. Ist es das? Macht ihn das traurig? Es tut gut, sich aus der Traurigkeit zu träumen, zwischen den Stengeln im Blumenerdenland herumzulaufen. In Gedanken. Unter dem braunen Blatt zu schlafen. Oder im kieseligen Sand zwischen den Kakteen. Oder im Urwald? Philodendron. Wie das wohl wär?
—Träumst du?
Jetzt den Couchtisch. Im Zigarettenspender Tabakduft, das sirrende Geräusch und beißender Gestank beim Drücken auf den Schleuderascher, mehr in den Augen und im Mund als in der Nase.
–Lass das.
Aber die Politur riecht gut. Ich riech sie noch. Ich drück ein wenig auf das Staubtuch. Nicht zu viel, ich weiß. Das sind Glasränder von der Party gestern. Sehen aus wie ein Gesicht. Und in der Marmorplatte suche ich den alten Mann, den nur ich sehen kann.
–Nimm nicht soviel.
Jetzt noch den Schrank. Ich komme noch nicht ganz nach oben, nur bis zu den Glastüren in der Mitte, aber die kann ich noch nicht richtig, da mache ich immer Streifen.
—Mach nicht wieder Streifen.
Die unteren Türen mit den Schlüsseln, die sind nicht so schwer. Da patscht sie immer drauf, wenn sie mit den Schlüsseln spielt. Wo ist denn meine kleine Schwester? Ich spüre, Kinder, die noch nicht mal auf dem Schrank putzen, sind nicht wirklich eine Hilfe.

–Mama. Wollen wir es uns jetzt gemütlich machen?
–Mama, guck mal ich habe Staub gewischt. Guck mal auch auf dem Tisch.
–Mama, wo bist du denn?

—1976

Jetzt putzt der kleine Junge nicht mehr Staub.
Er schaufelt Kohlen vor der Schule. Oder tapeziert. Kachelt das Bad. Verschraubt Paneel an Zimmerdecken. Fällt Bäume oder betoniert. Bessert das Dach aus und den Kamin. Legt Strom und reißt die Wände ein. Mauert sie wieder auf, verputzt und legt den Keller trocken. Handwerker kommen nicht ins Haus.
Die Termine stehen fest. Wenn Oma grad im Urlaub ist, bevor Papa aus der Klinik kommt. Die Terrasse, wenn der Frost aufhört. Das ist doch selbstverständlich.
Doch immer ist eine Fuge zwischen den Fliesen etwas zu breit. Oder zu schmal?
—Hängt die Kachel da nicht schief?
—Hätte man die Maserung nicht anders …?
—Die Tapete nicht noch um den Sims …?
—Den Putz nicht glatter, rauer oder dünner …?

Der kleine Junge ist erschöpft und geht.

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