Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)
#1 Der Wal
— 2021
Auf der anderen Seite fällt Impressionistenlicht schräg zwischen Birken auf eine lichte Sommerabendwiese. Vielleicht unsichtbar für die Menschen, die einzeln hier flanieren oder in kleinen Gruppen auf der Wiese lagern, sehe ich mir erst von oben, dann von hinten beim Schweben zu, in das so traumhaft ausgebreitete Bild.
Von links hinten weht, als ich ankomme, eine gute Energie heran, überholt mich, ohne etwa schnell zu sein. Eine Frau, nein Dame, das ist das Wort. So selbstverständlich fest und kräftig, strahlt sie elegant in ihrem rot geblümten, selbstbewussten Sommerkleid. Geht an mir vorbei. Streift mich kurz, nein hüllt mich fast mit ihrer Aura ein. Ohne dass sie mich beachtet, denke ich. Doch wie soll ich, wie kann man das schon wissen?
Ein Mädchen folgt ihr, vielleicht fünf, sechs Jahre alt. Und dann noch eins. Eine kleine Schar, und alle fast im gleichen Alter. Das können nicht ihre Töchter sein. Sie ist die Hüterin der Kinder, kommt mir in den Sinn, als eine wie angebissen, apfelkleine Kugel aus glänzendem Metall von der Seite ins Bild rollt, ohne dass da jemand wäre, der sie vielleicht geworfen hätte. Die Dame hebt sie auf und wirft sie fröhlich kommt-lass-uns-spielen von sich weg, wie eine Bocciakugel. Die Mädchen rennen los. Und bald sind alle außer Sicht. Vielleicht ist es nicht so ungewöhnlich, aber ich bin baff verwundert, über diese Geste. Seit wann fordern Erwachsene Kinder auf zum Spiel? Ist es denn ein Spiel? Vielleicht ist es eine Prüfung. Wer wird denn hier geprüft? Na, du.
Der Weg wird sandiger. Ein paar Bäume, Sträucher, Unterholz trennen ihn vom See. Noch geht ein leichter Wind, der angenehmen Moderduft vom bracken Wasser zu mir herüber weht. Ein verwaistes Handtuch auf der leeren Badestelle bilde ich mir, glaube ich, nur ein. Nicht so den hohlen Klang der Bretter unter meinen Füßen, die jetzt den Weg bilden über dem Sand zwischen See und mir. Bald überdacht als Laubengang vor einer lang gestreckten Reihe Pavillons, aus leichtem Holz gezimmert. Durch große, oft scheibenlose Fenster, hier ist wohl immer Sommer, kann ich die Menschen in ihren Zimmern und Appartements sehen. Da sitzen sie beim Tee, Bekannte und Unbekannte, Hüseyin und die Verschollenen, die Abgestürzten und Gesprungenen, vertieft ins Lesen oder Nichtstun. Ich nicke dem einen oder anderen zu. Keiner scheint mich zu bemerken. Niemand schaut auch nur kurz auf.
Ich gehe lange weiter in dem Laubengang, bis ans Ende des Gebäudes, folge dann einem Kopfsteinpflasterweg auf die Rückseite der Pavillons und finde mich auf einem weiten Platz, der abrupt an einer scharfen Kante geländerlos nach unten fällt. Eine Backsteinmauer geht zehn, nein zwanzig Meter in die Tiefe. Und da unten braust das Meer. Wellen schlagen an die Wand. Und in den Wellen tanzt ein Wal. Er tanzt den Freudentanz der Buckelwale, voll Übermut und Grazie.
Sein Kopf und manchmal auch der ganze Körper tauchen immer wieder aus dem Wasser auf, direkt unter mir, hoch an der Mauer. Whaaat? Ich lege mich auf den Bauch, robbe so weit über die Kante, wie es geht, um noch näher dran zu sein. Ich kann ihn fast berühren. Mein Zeichenblock fällt hinunter. Es ist zu gefährlich hier in diesem Bann. Ich knie mich hin, stehe auf, laufe zurück an allen Pavillons vorbei. Mit Salzwasser im Mund rufe ich begeistert allen zu, was ich da grad gesehen habe. Sie trinken weiter Tee, lesen, arbeiten oder tun nichts und niemand interessiert’s.
Da fehlt ein Pavillon und in der Lücke trägt jemand schwere Kettlebells umher in einem improvisierten Outdoor Bootcamp Gym auf einer Pontoninsel. Alles schwankt ganz leicht hier auf dem Wasser. Einer drückt im Liegen Betongewichte auf der Bank und einen Stahlverbieger gibt es auch. Er ist der erste, der mich hier bemerkt und reicht mir ein paar Hanteln. Erst an dieser Geste fällt mir auf, dass ich hier gehe, unterwegs bin, und jetzt nicht halten will. Hab ich denn ein Ziel, wo gehe ich denn hin? Warum bin ich denn losgegangen? Bin ich denn auf der Suche? Nach was? Oder werde ich gesucht?
Über die Gedanken wird es Nacht und ich steige von der Pontoninsel auf ein Boot, alt, etwas rostig. Abgeblättert ist die meiste Farbe. Soll das etwa eine Fähre sein? Die seit Ewigkeiten fährt? Ich schreibe doch kein Märchen. Drinnen köchelt es in vielen Töpfen. Ein großer Tisch ist schon gedeckt. Auch hier ist alles abgeblätterten und verwittert. Ich spüre eine sanfte Dünung. Wir liegen doch im Hafen, oder haben wir schon abgelegt? Wo sind denn alle, die hier kochen, oder essen wollen? Bin ich hier allein? Bin ich jetzt der Fährmann? Ich stelle meine Tasche ab. Wo kommt die denn her? Und die Geräusche jetzt? Als würden draußen Menschen reden oder irgendwo ein Radio laufen. Ein Funkgerät? Da kommt die Schiffsfamilie vom Deck, schweigend. Auch die Kinder. Doch die Geräusche gehen weiter. Aus meiner Tasche. Aus meinem Laptop. Ich nehme den Laptop raus. Ich verstehe kein Wort, was ist denn das für eine Sprache. Alle sind beunruhigt. Ich schüttele den Laptop. Klappe den Deckel auf, kurz flackern kryptische Zeichen auf, flackern weg, ich klappe den Deckel auf und zu, rappele an dem Gerät, schüttele weiter.
Da steht ein kleiner, kräftiger Mann vor mir, ein Mönch, wären da nicht die langen schwarzen Haare, rundes Gesicht, vielleicht so vierzig oder fünfzig. Lächelt mich ernst an. Ich habe Angst und Respekt. Will ihm die Hand geben, als mir einfällt, dass man das in Japan gar nicht tut, aber er nimmt die Hand, zieht mich zu sich heran, umarmt mich fest, legt seinen Kopf auf meine Schulter und raunt mir mit fast unhörbarer tiefer Stimme etwas ins Ohr. Ich verstehe nicht. Alle sind erstarrt. Ich reiße mich los und er verschwindet.
Lasst uns weiter kochen! Seit wann geb ich Befehle hier? Ich koche, zerschneide ein Gewächs, erst zweimal nach der Länge, wie es in jedem Kochbuch steht und dann in klitzekleine Stücke. Seht ihr das? Das sind seine Worte, ich schneide sie in Stücke und streiche alles mit dem Messer in den Müll.
Ich blicke auf und da sitzt er schon am Kopfende des Tischs. Lächelt mich an. Weist nach oben, ich folge seiner Geste, gehe an Deck.
Da steht einer dieser Pavillons an dem stillen See im Birkenwald und auf der Bank davor sitzt im rot geblümten Kleid die Dame. Eins ihrer Mädchen auf dem Schoß. Sie deutet mir, ich solle ihr helfen, dem Mädchen einen Stoffstreifen um den Arm zu binden als Zeichen. Darf ich das denn? Ist das nicht übergriffig? Das Mädchen ist voll okay damit. Lächelt mich an aus großen dunklen Augen, wie Bernstein nur viel tiefbraun dunkler. Und da erst bemerke ich, noch ein drittes Auge, so tiefdunkel wie die anderen beiden. Oder schaue ich nur unkonzentriert und schiele? Nein, da ist ein Edelstein mitten auf der Stirn, ein drittes Auge. Es bewegt sich leicht. Ob es damit sehen kann?
Ich schaue zur Seite. Und wirklich, alle Kinder da haben so ein drittes Auge. So groß und dunkelglänzend, dass ich nicht erkennen kann, wohin sie damit sehen.
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