Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)
#12 Gillette
Alles wechselt zwischen POV, Over Shoulder, Zweier und Totalen und beginnt mit folgendem Voice Over: Das Zehlendorfer Rathaus hat genauso wenig einen Lesesaal wie die Gottfried-Benn-Bibliothek nebenan, aber in der Traumkombination schon.
In diesem Lesesaal sitze ich über Büchern, die sich auf dem Tisch vor mir stapeln. An anderen, zwischen den Buchregalen versteckten, Tischen lesen einige, eher junge Leute. Auf einem breiten niedrigen Sessel liest eine Mutter mit Betonung und hörbar leise ihrem Kind vor, das auf ihrem Schoß sitzt, nein eher angeschmiegt auf ihr liegt.
So halb im Klaren darüber, dass es strange ist, andererseits auch mit einer Routine, mit der ich das immer mache, creme ich, wie jeden Morgen vor dem Spiegel, ohne hinzusehen, fast ohne es zu merken, selbstverständlich mein Gesicht mit Rasierschaum ein. Ach, ich hab mich schon rasiert? Oder nicht?
Jetzt kommt es mir aber doch seltsam vor, hier im Lesesaal mitten in der Bibliothek. Das eingeseifte Gesicht. Hier sitze ich. Ohne Rasierer. Nein, ich habe keinen Rasierer dabei. Das weiß ich. Ich suche erst gar nicht und sammle meine Sachen und Bücher in ein, zwei Einkaufstaschen. Es passt nicht alles hinein. Ein paar Bücher und einen Pullover klemme ich unter den Arm, stoße mit dem Rücken die Tür auf, ohne noch einmal in den Saal zu schauen, und drehe mich in den Flur das Rathauses auf der Suche nach einer Toilette, in der ich mir den Rasierschaum abwaschen kann.
Da, ach nein, ein Fahrstuhl. Und daneben —Überraschung— ein kleiner Tresen, Zeitungen, Tabak, Lotto. Und davor eine winzigkleine drehbare Vitrine mit Zigarrenabschneidern und Herrendüften. Ich bücke mich mit all meinem Zeug auf dem Arm und drehe mit dem Ellenbogen die Vitrine und wirklich: hinten liegen Gillette Fusion Reiserasierer. Zusammenklappbar. Gerettet. Die Verkäuferin versteht sofort meine Rasierschaumlage, bückt sich, schließt zum ersten Mal seit Jahren die Vitrine mit einem winzigen Schüssel auf, nimmt die Packung heraus und faltet sie neugierig und umständlich auseinander.
Ist da auch eine Klinge dabei? Ich stelle meinen Stuff auf den Tresen, manches fällt herunter, hoffentlich merkt niemand, dass die geliehenen Bücher auf den Boden knallen und hoffentlich bricht bei keinem Buch das Hardcover durch wie der Einband von Winnetou II, der mir in der schneeglatten Einfahrt vor dem Haus des besten Freundes aus der Hand rutscht, bevor ich es ihm wiedergeben kann.
Nein, keine Klinge. Doch, doch, doch, doch, warte mal. Zwischen Parfüm- und Miniwhiskeyflaschen entdecke ich auch eine Packung mit Klingen. Wieviel Klingen da drin sind, kann ich nicht erkennen, egal. Alles ohne Preise, egal. Ich nehme die jetzt. Ich muss den Schaum aus meinem Gesicht bekommen, auch wenn es hier im Rathaus vermutlich noch teurer ist als bei Rossmann oder DM. Andererseits, da könnten sogar noch D-Mark-Preise draufkleben. Bestimmt. Mit dem Ellenbogen halte ich die restlichen rutschenden Bücher und anderen Sachen auf der Theke, fische mit einer Hand das Portemonaie aus der Tasche, will gerade, wieder mit einer Hand, die richtige EC-Karte heraussuchen, als sie mir schon drei Pfennig und fünf oder sechs kleine, milchigblaue Glasmurmeln als Wechselgeld in die andere Hand legt. Wir wollen ja, dass unsere Kundnen zufrieden sind und ein bisschen spielen können. Ich bin mir sehr sicher, dass ich noch gar nicht bezahlt habe, stecke aber alles ein. Sammle meine Sachen auf und mache mich davon. Wieder der Fahrstuhl von vorhin, allerdings jetzt im Altbau.
Ich erinnere mich, dass im Altbau im Gang recht vom alten Haupteingang Toiletten sind, wundere mich kurz, dass ich das nach über zwanzig Jahren noch weiß und finde wirklich durch verschlungene Gänge und Glastüren, den Haupteingang, indem ich immer den Hinweisen zum Ausgang folge. Ausgang, Notausgang, Ausweg, Himmelfahrt, Toiletten, Herren. Ich hocke mich, um die Taschen und das lose Zeugs vor der Tür abzustellen, da steht in Augenhöhe plötzlich das Schoßkind aus dem Lesesaal, das mich aufmerksam ansieht. In den dunklen Augen erkenne ich, dass mir eine kleine Antenne aus der Stirn wächst. Die Mutter, ohne, wie mir sofort auffällt, in Babysprache zu verfallen, beugt sich zu dem Kind und erklärt ihm, was der Mann vorhat und warum er Rasierschaum im Gesicht hat. Das wüsste ich auch gern. Die Antenne erwähnt sie nicht.
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