Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)
#14 Der Prinz
Broschüren auf einem frisch gemachten Bett. Ich frage mich, was die kosten. Vielmehr ist es die Frage selbst, die sich mir stellt. So ist es also, wenn eine Frage im Raum steht. Diese allerdings steht nicht, sie schwebt. Sie schwebt im Raum um mich herum, mäandert dann in diesem Hotelzimmer über dem Bett. Dem größeren der beiden in einer weiten Suite mit sehr weit entfernten Wänden. Die hellblauen Vorhänge neben den wandbreiten Fenstern, durch die die Abendsonne scheint, sind fast transparent. Im Sfumato, kaum zu sehen. Weit weg. Personal wird gleich, wie jeden Abend, für den Turndown hereinkommen, die Vorhänge zuziehen, mein Jackett in den Schrank hängen und fragen, ob alles in Ordnung ist.
Also was kosten die Broschüren? Ich bin immer noch nicht das Subjekt in diesem Satz. In diesem Traum. Die Broschüren stellen die Frage selbst. Ohne eine Antwort zu erwarten, denn sie sind die einzigen, die ihren Preis kennen. Es sind die Broschüren.
Wer liest die? Jetzt bin ich da. Jetzt stelle ich die Fragen. Wer liest die, und warum liegen die hier? Auch ich erwarte kein Antwort.
Ein körperloser Lackaffe, also lediglich eine Lackaffenergie wabert in meinem Rücken: Ich kaufe mir manchmal eine. Aber meist liegen sie ja kostenlos auf dem Bett. Das ist nicht meine Frage. Liest du die? Die Vorhänge sind zu. Der Zimmerservice schiebt den kleinen Rollwagen mit zwei glänzenden Speiseglocken an den runden Tisch im Erker. Unter dem Fenster dröhnt Lärmläuten aus den Glockentürmen der Stiftskirche in der Häuserzeile einer großen Stadt. (Klausener Platz?)
Die Ruhe der tiefen Glockenschläge wird durch den Verkehrslärm in der Lewishamstraßenunterführung hektisch zerwirbelt und selbst zu Lärm. Windig und unwirtlich, trotzdem gemütlich und vertraut wie die Straßenbahnhaltestelle zwischen den Autobahnauffahrten im nächtlichen Schneeregen nach einem langen Lesetag im Bernsteinlicht der historischen Bibliothek. Wenn nur der Mantelkragen hochgeschlagen ist.
Eine Litfasssäule dreht sich und nebenan in einem der illegalen Brandwandfenster läuft etwas Erotisches auf einem überdimensionalen Tablet. Sehr harmlos als Revue aus den 20er Jahren.
Im Nachthemd erscheint aus dem Traumnebel, die Dame, die Besitzerin des Hotels. Schwebt im nachfestlichen Hochzeitsfeiersaal zwischen lädierten Girlanden und halb geleerten Gläsern heran: Kommen sie doch bitte noch einmal in mein Offizio, (ein Glasverschlag neben der Bühne mit Holzrahmen und altmodischer Einrichtung. In der Spiegelung wundere ich mich kurz über meinen weiten dunkelbraunen Tweedanzug mit heller Weste) ich möchte noch etwas mit Ihnen besprechen.
Als ich eintrete, liegen Papiere und ein Vertrag auf dem Schreibtisch/Sekretär. Es geht um eine Prämie von 2041 Euro, die ich ausgezahlt bekommen soll. Ich könnte, denke ich mir, eintausend nehmen und mir etwas kaufen. Ich weiß auch was, aber es fällt mir nicht ein. Nein, es sind 241041,- für dreißig Jahre Gast sein.
In der langen Halle eines Gartensaal im Schloss wandele ich mit ein paar anderen. Nein ich wandele nicht. Ich stehe. Um mich herum flanieren Gäste um Orangenbäumchen in dem grüner Spiegelsaal, der an der weit entfernten schmalen Seite offen ist. Keine kristallverglaste Pforte? Nein nichtmal ein Wand. Beinahe ist der Saal ein tagesheller Stollen, der in die weiche, grüne, baumlose Hügellandschaft übergeht und sie gleichzeitig mit all ihren bemoosten Felsen einsaugt in die Spiegel, dort vervielfacht und mich schwindelig macht.
Riesig, mindesten zwei Meter fünfzig und sehr freundlich mit einem roten Lockenkopf gibt mir jemand die Hand. Ich bin erstaunt. Der Riese stellt fragend fest: Sie kennen mich gar nicht? Ich bin Prinz Karl. Hab viel von Ihnen gehört.
Hinter ihm taucht etwas kleiner Prinz August auf. Taucht auf? Sagen wir: tritt heran. Sehr sympathisch. Auch er, als würde er mich schon lange kennen.
Wir gehen durch die fehlende Wand auf eine extrem hohe genietete Stahlbrücke. Das grüne Landschaftsmeer weit unter uns. Lassen sie die nicht weiter. Wen? Dann will er wieder springen. Wer? Prinz August. Erst nach einiger Zeit bekomme ich den schweren Mantel über den Prinzen gelegt.
Für die Fahrt zum Flughafen mache ich die Verschläge des Oldtimers auf (wie bei einer Kutsche). Erst den einen, dann laufe ich um die Kutsche auf die andere Seite. Wir fahren zum Flughafen. Ist das Station … ? Etwas weiter dahinter. Warum sind wir nicht bis zum Terminal gefahren?
Es geht steil hinauf in eine Gasse. Kutschen und Autos verstopfen die Straßen rechts und links. Streifen die Cafétische vor den Bistros.
Es ist ja so, als hätte beinahe jeder so ein Automobil. Überlegen sie, wer hatte schon ein Kutsche. Es ist doch keine Frage des Antriebs. Pferd, Öl, Strom, es ist eine Frage des Platzes. Diese Teslas wiegen ja doppelt soviel wie ein Pferd mit Kutsche.
Ich sehe viele auf der Suche nach einem Parkplatz. Alle wollen zu einem Begräbnis und fahren direkt vor die und auch in die Kirche von Husum oder Hüseyin. Dort stirbt gerade Frank Wellenkamp (*1856, Indianapolis †1957, Missouri), auf dem Altar. Was man unbedingt vermeiden soll.
Er ist zwischen 1856 und 1957 fast zweihundert Jahre alt geworden. In der Vorautomobilzeit verging die erlebte Zeit langsamer.
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