Auf der anderen Seite - Traumtexte

#22 Kokons

23. Februar 2022

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #22 Kokons

Leicht fliegt das Fahrrad mit mir in weiten Kurven über kahle, felsdurchsetzte grüne Hügel. Dort unten sehe ich mich elegant um Felsen fahren und um Schmelzwasserpfützen. Dann Baumkronen bis zum Horizont. Ich tauche in den Wald hinein. Fliege, fahre, schwebe sehr weit oben und tief unten im feuchten, braunen Wald zugleich. Zwischen den Bäumen schmale Wasserläufe, Bäche, klar, wirbelnd über flache Steine, dann wieder ruhig, in kleinen, dunklen Tümpeln.
Es riecht nach dunklem Laub.

Die Ruhe täuscht. Die Stadt ist spürbar nah. Warte! Höre ich die Metropole? Nein, dazu ist der Fahrtwind viel zu laut, ich bin jetzt sehr schnell unterwegs auf dem Mountainbike. Ich nehme sie nur mit den Nackenwirbeln wahr, die Stadt. Weiß, dass sie da ist. Der Beton. Die Bibliotheken, die Kirchen, die Wohnblöcke, die Villen, die Unterführungen, Autobahnen, Kliniken, Schienen, die windigen Haltestellen, die Kraftwerke, Fußgängerbrücken, Parkhäuser, Pizzerien, Spielplätze, die alten rostigen Industrieanlagenmonster und die neuen Logistikzentren, die Universitäten, das Audimax, verlassene Schwimmbäder und die Menschen, nein, die Menschen nicht.

Beinahe schwerelos, wenn nicht die sanften Schläge in die Federung des Lenkers wären sause (?), ja, sause ich über die bemoosten Steine, verwurzelte Pfade und überquere die Wasserläufe manchmal im Sprung, im Flug, oder über längst vergessene halb morsche Stege.

An manchen Bäumen hängen lange Streifen aus silbrig grauer Rinde. Die Menschen, das sehe ich erst jetzt, lassen sich darin einwickeln und von den Bäumen in die Kronen ziehen. Es passen ganze Familien, vier, fünf Menschen in einen dieser lockeren Kokons. Kinder, Erwachsene, Alte. Manche sind aber allein, lassen sich hochziehen, um dort oben zu hängen und abzuwarten. Was abzuwarten? Die Nacht? Den Krieg? Den Tod?

Ich halte an einem kleinen Gefährt zwischen den Bäumen. Ein Bauwagen? Aus Blech?
Bin schon drin. Warmes Licht in einem kleinen Raum, nicht viel größer als eine Dusche, eine ausrangierte Telefonzelle?
Jemand will die Tür zu der Leichtkabine zusperren, mich einsperren. Aber ich habe immer die Ferse oder den ganzen Fuß in der Tür.
Ich weiß, wie Richman-Bauwagen zu sichern sind. (Richman, for real? You’re kidding.) Bereite Vorhänge-, Zahlenschlösser vor. Stelle schon mal die Kombination ein. Ich habe noch ein paar Schlösser übrig. Habe sie damals alle aus der Schwarzkaue mitgenommen, gehe raus und frage, ob jemand noch welche braucht. Ja, der eine oder andere meldet sich.

Unter einem hölzernen Vordach am Bauwagen hängt eine schräg gekippte Küchenzeile. Jemand versucht zwischen die improvisierten Geräten einen alten Herd einzupassen.
Über uns und soweit ich in den Wald sehen kann, schaukeln die silbrigen Kokons ganz sanft.
Der Herd kippt immer wieder aus der Theke, in die Senkrechte, verkanntet. Irgendwie passt es dann halbwegs. Ich denke, sage: man wird erst sehen, ob es passt, wenn die ganze Küche nicht mehr gekippt ist, waagerecht steht. Ja, sagt er. In der realen Welt ist jeder für sich allein.

    Leave a Reply