Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)
#26 Hühnerstall
Ein Schüler geht vor, die Hand auf der Klinke, zögert.
Ich nicht. Ich komme gleich nach, höre ich ihn jetzt schon von hinten.
Niemand will sie vorwarnen da drinnen.
Ich drücke die Klinke herunter, schiebe die schwere Seitentür auf, mache einen Schritt in das Dunkel, in den Hörsaal, Chemiesaal, in das große Kino, das vollbesetzte Audimax unten neben der Tafel, der Leinwand, dem Rednerpult.
Der Professor, Redner, Lehrer hält inne, stolpert kurz von nervigem Zuspätkommer über Terroranschlag zu Familienangelegenheit. Nur kurz.
Bis er bemerkt, dass der kleine Junge, mein Sohn, da weit oben, mich hier unten erkennt, aufsteht sich kurz nach seinem besten Freund umdreht und sich quer durch die Sitzreihen drängt. Von rechts nach links auf meine Seite kommt, sich setzt und wartet, wie ich die blaue Teppichtreppe hochsteige.
Langsam im Fastdunkel.
Ich liege mit dem Kopf auf einer weichen Stufe.
Erzähle.
Unter Tränen.
Da schwimmt ein Delfin am Wannseestrand. Dunkelrosa. Fast gelb. Gar nicht grau. Sehr nah am Ufer. Ich gehe hin, will ihn anfassen. Streichle ihn. Er dreht sich auf den Rücken, schwimmt etwas weiter raus. Er ist groß wie ein Schweinswal.
Mein kleiner Sohn ist sehr ernst, skeptisch, fragt. Geht erstmal wieder auf seinen Platz. Zu seinem Freund. Ist besser so. Ich weiß auch keine Antwort.
Der Vater des Freundes, auch mein Freund, hat weit draußen im Flachen auf den Dörfern einen Hof gefunden. Oder eine Arbeit auf dem Hof? Im Hof warten wir vor seinem Haus. Im Auto, um ihn zu fragen. Aber was? Was wollten wir fragen? Es ist gar nicht klar, ob der Freund zu Hause ist, nicht einmal, ob das überhaupt der richtige Hof.
Auf der Kreditkarte ist es nicht zu erkennen. Im kleinen, schmucken Pförtnerhäuschen hilft eine freundliche, sehr dicke Postangestellte. Die Kreditkarte hat runde Icons, die sich ändern, drehen, leuchten. Opa hat, zeigt die Drehung, wenn ohne Begleitung, ein Kartenlimit. Darf aber mit. Daneben muss man einen fünfzehnzeiligen senkrechten Code eingeben. Ich tippe einfach drauflos und er stimmt. Auf der Rückseite leuchtet die Körpergröße 1,84. Ist die Tochter denn um dreißig Zentimeter gewachsen? Da kommt sie heraus, die Tochter, als die Kreditkartenfrau weggeht. Sie redet mit uns. Die Karte hat also funktioniert. Ich liebe Die Bahn. Sie ist wirklich größer, als ich dachte.
Ich bin verwundert, dass die matschige Gummistiefellandschaft eine Möglichkeit ist. Alle waren doch immer dagegen oder nicht? Und jetzt so begeistert? Von den Möglichkeiten hier? War der Hund denn gestorben?
Ich schaue über die Schulter, sehe unsere Wohnung in einer unwirklichen Ferne.
—In welches Café wollen wir denn hier gehen?
—Wir schlachten doch unsere eigenen Hühner.
Die Frühmorgenkälte in dem Drahtverhau lässt meinen Atem gefrieren. Ich weiß, welches Huhn ich meine. Wir haben es vorher beschlossen. Haben wir das? Es ist das ganz Weiße. Das ganz Weiße? Das ganz Weiße weiß Bescheid, ich weiß, dass es Bescheid weiß.
Es schaut kurz auf, hüpft von der Stange. Die anderen dösen weiter. Es lässt sich in die Ecke drängen. Freiwillig. Weiß Bescheid. Ist einverstanden. Ich bücke mich, es fliegt auf, schlägt um sich, ich erwische einen Flügel, ein Flügel erwischt mich. Eine Feder, eine harte Feder, am Auge. Im Auge.
Das Auge tränt, ich weine nicht, das Auge tränt, ich bin nicht traurig, es war ein Schlag ins Auge, mit einer Feder und das Auge tränt. Ich weine nicht vor Wut. Ich bin nicht wütend, wie kann ich mich so dämlich anstellen? Ich bin nicht wütend, es muss sich wehren. Es ist sein gutes Recht, ich bin nicht wütend, es ist so. Ich weine nicht. Es ist nicht traurig. Es ist so. Ein Huhn. Ein Mensch. Eine Axt, ein Hauklotz.
Wieso schlägt es so um sich? Die Beine, jetzt fasse ich die Beine. Endlich. Wie konnte das so lange dauern? Was mache ich denn da? Was ich mache? Ich halte das flatternde Huhn mit den Handschuhen an den Beinen hoch, mit einer Hand. Mit dem anderen Arm, drücke ich es an die Brust unter die Weste. Ziehe den Stock, wo ist der Stock? aus der Gesäßtasche. Der Schlag. Er trifft gut, gut. Trifft gut, nicht zu fest, nicht zu lasch. Ich darf es jetzt nicht totschlagen. Ich treffe gut, der Kopf bleibt ganz, danke, das Huhn wird lang, streckt sich kurz. Dann Ruhe.
Die Beine, die Flügel unter meinem Arm liegt der Hals auf dem Bock. Keine Gegenwehr, Ruhe, einverstanden, rede ich mir ein. Es fällt mir leichter, als ich dachte. Der Kopf, fällt zur Seite, ein langer dünner Strahl Blut schießt waagerecht in den schmutzigen Sand.
Ich hab es doch gewusst, erschrecke trotzdem, lasse los, ganz kurz. Es flattert nochmal hoch über meine Schulter, an den Beinen, halte ich den Blutstrahl von mir weg. Dann wird es schlaff, hängt schwer in meiner Hand. Genauso schwer, wie die Axt am anderen Arm. Alles wird eins, die dunkle Lache im Sand, neben meinem Schuh, auf meinem Schuh, die schmutzigen, gar nicht weißen Federn, die kratzigen Krallen in den Handschuhen, der umgeschlagene Hemdsärmel über der schrägen Narbe auf meinem Unterarm, die blutigen Haare auf meiner Schulter, die Dunkelheit, die von den Seiten kommt, die Kälte im Hals, mein Kopf, der in den Sand rollt.
Jemand ruft von weitem. Es stinkt. Ich höre mich von weitem rufen. Die dicke Postfrau schlägt mir ins Gesicht. Ruft. Ich rufe zurück. Nicht hauen. Sie hört mich nicht. Der beißende Geruch brennt in der Nase. Ich liege auf dem Sofa, die Beine in der Luft, Omas Gesicht ganz nah. Oma du bist doch tot, bist du nicht die Postfrau? Sie lächelt, hält mir ein braunes Fläschchen an die Nase. Mach weg, den Gestank. Hinter ihr steht Opa, die Axt noch in der Hand, die lange Narbe auf dem Arm. Oma dreht sich zu ihm um.
Mein Freund kommt aus dem kleinen Bauernhaus an unser Auto, jetzt schon ein Pickup Truck.
Er will es noch nicht an die große Glocke hängen, weil er noch nicht weiß, ob es für ihn klappt.
Ich weiß doch, dass er tot ist.
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