Auf der anderen Seite - Traumtexte

#37 Lit:Potsdam

3. August 2022
LitPotsdam

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #37 Lit:Potsdam

Auftaktfest einer großen Veranstaltungsreihe.
Eine große Festgesellschaft flaniert durch einen riesigen, parkähnlichen Garten, bevor es losgeht. Dann, als hätte es ein Zeichen gegeben, sammeln sich alle auf der Böschung links des zentralen Rasens. Es gibt keine Stufen oder Terrassen, wie etwa bei einer Open-Air-Stehtribüne zu erwarten wäre. Auf einer Böschung also, die an einen Deich erinnert, wäre da nicht der rahmende, geschwungene Baum- und Koniferenbewuchs, versammelt man sich also in seinen guten Schuhen. Jetzt schon dicht gedrängt.
Ich stehe am Fuß dieser Böschung, rede mit zwei Teenagermädchen, ohne sie zu beachten. Suche mit einem Auge die Menge ab, ob ich jemanden erkenne. Ich hasse es, wenn jemand sich so mit mir unterhält. Ja, die eine oder andere (meist Frauen aus der Perlenkettenfraktion) unbestimmt. Manchmal sogar ein kurzes Zunicken. Nein, Zunicken wäre schon zu viel, eine beinahe unsichtbare Reaktion: ja, ich habe dich/habe Sie auch erkannt.

Dann tritt Unruhe ein. Statt der erwarteten Rede gehen Paare, noch bevor die Musik einsetzt, auf einen exzellent kurz geschorenen Rasen hinter der Böschung. Offensichtlich kann ich über die Böschung hinweg sehen. Ein DJ treibt Beats unter die Tanzmusik einer Combo, die live Musik aus den sechziger Jahren spielt. Gitarre, Schlagzeug, Bläser. Sehr groovy. Die ersten Paare beginnen, vereinzelt, scheu zu tanzen. Keine Profis, keine Showeinlage, keine bezahlten, engagierten oder auch nur gebrieften Gäste. Seltsame Diskrepanz zwischen der Scheu, dem Sich-fehl-am-Platz-fühlen jetzt und dem energischen Losgehen vor ein paar Minuten. Ich gehe etwas beiseite, damit ich nicht aufgefordert werde, womöglich von einem der Mädchen. Nein, die sind mit sich selbst beschäftigt, beachten mich nicht. Recht so.

Doch ich spüre noch immer Blicke auf mir. Irgendwer, irgendetwas beobachtet mich. Wohlwollend? Neugierig? Bin ich verdächtig? Falsch angezogen? Sollte ich nicht längst auf der Bühne stehen?
Ich schlendere mit den Blicken über mir weiter. Die Frage ist nicht, ob es ein Mensch ist, der mich von der Böschung aus beobachtet, eine omnipräsente, übersinnliche Entität, oder einfach – naheliegend bei diesem Garten, bei dieser Veranstaltung – CCTV. Die Frage ist, warum ich das nicht weiß. Warum sich mir diese Frage überhaupt stellt. Müsste ich es denn in einem Traum nicht sofort wissen? Denn dass ich träume, weiß ich, seit die unerhörte Musik eingesetzt hat.

Ich wandere weiter, suche einen Innenraum, versuche unauffällig, mich der Beobachtung zu entziehen, was im Falle einer spirituellen Entität natürlich (!) aussichtslos wäre. Stehe dann in einer Remise, ohne in der Remise zu sein. Sehe die Szene, ohne dabei zu sein, als unsichtbarer, unbeteiligter Zuschauer in einer Art virtueller Realität. (übrigens eine, wenn ich mich jetzt erinnere seltene Perspektive in Träumen. Nur in meinen?)

In der von staubigen Sonnenlichtstrahlen durchzogenen Remise hantieren zwei Männer, skurrile Männer, mit chemischen, alchimistischen Apparaturen. Untergebene, die nur einen kleinen Ausschnitt des gesamten Prozess kennen. Sie scheinen nicht ganz bei der Sache. Offensichtlich wissen sie auch nichts von der vielleicht, (denn ich weiß es auch nicht), enormen Bedeutung der Experimente für die Menschheit oder zumindest für ihre Auftraggeberin (das scheine ich zu wissen: es ist eine Auftraggeberin)

Einer der beiden beginnt, sich nackt auszuziehen, weil es für die Arbeit mit seinen unwirklichen Fläschchen, Kolben, Dämpfen und Flüssigkeiten angeblich förderlich ist.
Der andere: »Das geht doch nicht.«
Es kommt zu einem kleinen, zickig, handgreiflichen Laurel-und-Hardy-Zank.
Noch mehr Staub glitzert im Sonnenlicht.
Dann zieht der zweite sich auch aus. Sie wenden sich wieder dem köchelnden Geblubber zu.

Ich spüre, kurz bevor die beiden es bemerken, dass jemand kommt. Sofort haben sie übergroße, fahle Latexhandschuhe, Fäustlinge, vor ihrem Gemächt. Meine Aufmerksamkeit ist jetzt auf der Tür, bei der Frage, ob tatsächlich jemand kommt. Ja. Es kommt: Der Zwischenchef.

Schon haben die beiden kräftig gepustet und stecken jetzt als unförmige Michelinmännchen in ihren Handschuhen. Nur die Gesichter sind halbwegs frei.
Der Zwischenchef, ein etwas dicklicher Herr mit Haarkranz und Hosenträgern ist etwas befremdet, akzeptiert den Aufzug der beiden dann aber als harmlos, ungefährlich, möglicherweise zuträglich oder gar notwendig. Auch er hat vermutlich keine Ahnung. Jedenfalls gibt er sich nicht die Blöße, es zu verbieten, daran etwas auszusetzen oder auch nur zu fragen. Stattdessen geht er zu meiner Überraschung schweigend an den beiden vorbei in den hinteren Bereich des Raums. Als er kurz darauf zurückkommt und sich umdreht, hat er sich aus einem Fass zwei satte Hände voll Nudeln oder glibberiger Fäden auf die Stirn geklebt.

Draußen wird weiter getanzt. Engagiert aber hölzern.
Ich habe meine Rede fertig, gehe zum Mikrofon. Erleichterung.

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