Rezension

„Der Mann mit den Facettenaugen“ von Wu Ming-Yi

29. August 2022
Rezension Birgit Birnbacher
Der Mann mit den Facettenaugen von Wu Ming-Yu

Der Mann mit den Facettenaugen. „Der wichtigste taiwanische Autor erstmals auf Deutsch: Magischer Realismus, fantastische Lebenswelten und taiwanische Mythologie.“  So der Blurb des Verlags (Matthes & Seitz).

Im ersten Teil des Satzes steckt alles, was das Buch wichtig macht: Relevanz des Autors – wichtigster taiwanischer Autor// erstmals auf Deutsch. Tatsächlich muss ich mir eingestehen, dass ich noch nicht einmal so genau weiß, wo Taiwan liegt. Geschweige denn, wie es um die taiwanische Mythologie steht.

Das ist die erste große Leseempfehlung für den Roman. Und ein großer Dank an den Verlag, der diese Veröffentlichung gewagt hat. Es war an der Zeit, sich in Deutschland näher mit taiwanischer Literatur zu beschäftigen. Ich halte die Annäherung an unbekannte Kulturen und Lebenswelten durch einen Roman oder sehr gutes Sachbuch für eine der besten Arten, sich für das Neue zu öffnen. Ganz besonders in einer Zeit in der das meiste, was wir erleben, globale Folgen, Auswirkungen und Konsequenzen hat. All das wird uns hier in einem ganz besonderen Mix präsentiert.

Neue Einblicke

Der größte Gewinn: Sich einzulesen in das, was es hier über eine andere Kultur und Welt zu entdecken gibt. Ist es noch zeitgemäß, uns mit dem Slogan: „fantastische Lebenswelten“ in das Buch einer anderen Kultur zu locken? Geht es um das Staunen und Entdecken und Erfreuen am Anderen?

Bei Wu Ming-Yu eher nicht. Denn dieser Autor tritt nicht an, uns für seine Heimat zu interessieren, uns mit exotischen und fantastischen Situationen zu unterhalten, sondern ganz im Gegenteil. Wu Ming-Yu möchte die Leser:innen in Taiwan erreichen und hat den Rest der Welt im Blick. Denn er weiß, dass das, was in und um Taiwan passiert, für uns alle interessant und relevant ist. Und das ist nicht immer schön oder angenehm zu lesen, sondern eher ein Aufweckprozess.

Der Autor, die Herkunft

Der Mann mit den FacettenaugenWu Ming-Yi ist 1971 in Taoyuan, Taiwan, geboren. er ist Autor, aber auch Umweltaktivist und Professor für Chinesische Literatur in der Dong-Hwa-Nationaluniversität. Seine Romane sind in mehr als zehn Sprachen übersetzt, er wurde international mit Preisen ausgezeichnet. Wu Ming-Yi lebt in Taipeh.

Taipeh ist Hauptort der Insel Taiwan und Hauptstadt sowie Regierungssitz der Republik China (Taiwan). Taiwan besteht aus einer Hauptinsel und vielen weiteren kleinen  Inseln und hat eine Bevölkerung von rund 23,5 Millionen Menschen.[11] 

Am wichtigsten zu verstehen ist wohl dass es sich bei Taiwan nicht um ein Entwicklungsland handelt, sondern um einen hochentwickelten Industriestaat. Taiwan ist der zweitgrößte Produzent von Halbleiter-Anwendungen wie Prozessoren, SoC, PC-Hauptplatinen und Grafikkarten, Notebooks und WLAN-Komponenten.[96] Und nicht nur das. Im Demokratieindex 2020 belegt Taiwan Platz 11 von 167 Ländern und Territorien.[52]

Damit ist es in diesem Ranking der mit Abstand bestplatzierte Staat Asiens und liegt unter anderem vor Deutschland, der Schweiz und Österreich. Auch in den Freiheitsindex-Länderlisten 2017 und 2018 der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House erhielt Taiwan Punktwerte von 91 bzw. 93 und damit bessere Werte als traditionell demokratisch verfasste Staaten wie die USA, Frankreich oder Italien.

Ein weiterer Grund, nicht (nur) nach „fantastischen Lebenswelten“ zu suchen, sondern ein staatliches Powerpack und interessantes Mindset zu studieren, von dem wir auch lernen können.

Thematik

„Jedes kleine Stück Plastik, das in den letzten 50 Jahren hergestellt wurde und in den Ozean gelangte, ist immer noch irgendwo dort draußen.“– Tony Andrady, Chemiker des amerikanischen Research Triangle Institute[11]

Eine große und wichtige Thematik des Buches ist die Umwelt. Ganz konkret eine der Müllinseln, die in den Strudeln der großen Ozeane an der Oberfläche treiben und einen der Protagonisten des Buches, ausgesetzt auf dem Meer, rettet. Dass es Müllinseln gibt, die größer als Deutschland sind, ist den meisten Menschen in Europa bekannt. Wie steht es in Asien?

Laut einer Anfang 2015 in Science veröffentlichten Studie sind die Hauptverursacher des jährlichen Mülleintrags die Länder China, Indonesien, Vietnam und die Philippinen.[65]

Das liegt vor allem an der mangelnden Aufklärung und starken Verarmung der Bevölkerung. Hier können wir alle helfen und hier leistet Wu einen Beitrag zur Aufklärung und Bewusstmachung. Gleichzeitig stört es mich, dass er in ein doch sehr billiges schwarz-weiß Denken verfällt, wenn es um die Verursacher der Müllkatastrophe der Erde geht. Wir sind hier alle beteiligt, es macht keinen Sinn den Finger auf große Konzerne zu richten oder die indigenen Völker und ihre Haltung zur Natur als eine Alternative darzustellen. Es ist schon komplizierter. Für seine Heimat und das chinesische Festland mag dieses Buch von Wu allerdings sehr viel wichtiger und gewichtiger sein.

Erzählstil

Die Handlung wechselt zwischen verschiedenen Protagonisten. Alice, eine Autorin, die ihrem Mann und Kind hinterher trauert, Atile’i, der von einer Insel ausgesetzt wird, auf der ein von der Welt abgeschlossenes Urvolk mit naturverbunden Brächen lebt, Hafay, Angehörige der indigenen Gruppe der Amis, die eine Art Kneipe betreibt, oder Daho, der zur Gruppe der Bunun gehört.

Neben diesen Gruppen mit Wurzeln auf dem chinesischen Festland leben (in Taiwan) vor allem in abgelegenen Regionen noch Angehörige der indigenen Völker Taiwans, sie machen heute etwa 2 % der Gesamtbevölkerung aus. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind sie zwar in hohem Maß von der chinesischstämmigen Bevölkerungsmehrheit assimiliert worden, doch gibt es seit Mitte der 1990er Jahre Bestrebungen, die Kultur und die Sprachen der Ureinwohner zu bewahren. Als ethnische Minderheiten offiziell anerkannt sind die 16 Völker der Amis, Atayal, Bunun, Kavalan, Paiwan, Puyuma, Rukai, Saisiyat, Sakizaya, Tau, Thao, Tsou, Truku, die Sediq (seit 2008) sowie die Hla’alua und Kanakanavu (seit 2014).[27]

Die ausufernde Erzählweise, bei der man mit sehr langen Passagen leben können muss, in denen einen kleinste Details erzählt werden, deren Zusammenhang zur Gesamthandlung nicht immer nachvollziehbar wird, fordern sehr viel Geduld. Andere Kulturen, andere Erzählweisen. Die Kraft, die man braucht, um sich in den Nebenästen der Erzählung nicht zu verlieren 8oder zu langweilen), ist für die mitteleuropäischen Leser:in eine Herausforderung.

Sprachstil

„Der Mann mit den Facettenaugen“ ist von Johannes Fiederling aus dem Chinesischen übersetzt worden. Nach siebenjähriger Tätigkeit im Sprachendienst des Auswärtigen Amts widmet er sich seit 2017 hauptberuflich dem Literaturübersetzen. Er lebt und arbeitet in seiner Wahlheimat Taiwan.

Ich denke, es ist nicht leicht einen Übersetzer:in zu finden, die mit genügend Autorität und Wissen an ein solches Werk geht. Eine Übersetzung ist gut, wenn sie die Eigenart des Autors/der Autorin erhält, der speziellen Denkweise der Kultur gerecht wird und die richtige Sprachebene trifft. Da ich kein Chinesisch spreche, ist es schwer für mich, zu beurteilen, wie gut das Buch sprachlich ist. Wie gut es für ein taiwanesisches Buch ist. Ob – zum Beispiel – der wilde Mix von Sprachebenen Teil des schriftstellerischen Stils ist.

Was ich allerdings sagen kann, ist, dass es in eine deutsche Sprache übertragen ist, die uneinheitlich in den Sprachebenen ist, sich sehr naiv liest, teilweise in Slang verfällt und dann wieder in eine Art Fachjargon verfällt. Das könnte vielleicht gut gelöst werden, doch so klingt es hier nicht. Hier fehlt mir ein Lektorat, das den Text in eine einheitliche Form bringt. Ein paar Beispiele aus dem Alice-Universum:

  • „Doch nur Alice wusste, dass sie seither meist nicht einmal dazu gekommen war, aus der Ferne literarische Luft zu schnuppern …“
  • „Die wenigen Kulturschaffenden vor Ort bedienten sich mit Vorliebe abgehalfterter Phrasen wie dieser …“
  • „Professor Wang wieder einmal scheinheilig davon schwadroniert …“
  • „Wegen ihm hatte sie in ständiger Angst vor den Scheißkerlen gelebt …“

Wortphrasen und dann der Einsatz von Worten der Umgangssprache gemixt mit Fremdwörtern – das war ein harte Mix für mich. Und hier komme ich schnell an eine Grenze, an der der Lesegenuss stark getrübt wird. Anders gesagt: Wenn einen der Inhalt interessiert, die Geschichte, die Kultur, muss man bei diesem Buch einen sehr niedrigen sprachlich-stilistischen deutschen Text in Kauf nehmen.

Kultur
Wu Ming-Yu Der Mann mit den Facettenaugen

Wu Ming-Yu

Es ist klar, dass viele Dinge in anderen Kulturen anders gehandhabt werden. Das Geschlechterverhältnis zum Beispiel. Und hier war ich oft befremdet. Wenn sich die Hauptfigur Alice Gedanken über Liebe und Literatur macht, dann wird der Text gerne kitschig und verklärt.

„Die letzten Monate hatten Alice gezeigt, wie sehr sie Toto gebraucht hatte. Ihm zuliebe hatte sie darauf geachtet, morgens zu frühstücken, abends zeitig zu Bett zu gehen, hatte an ihren Kochkünsten gearbeitet.“

Wenn es um den Helden Atile’i oder Thom, den verstorbenen Lebenspartner von Alice geht, dann wird es heroisch und mannhaft.

„Als er am darauffolgenden Morgen über die Insel streunte, glich Atile’i von Weitem betrachtet nicht länger sich selbst. Vielmehr wirkte er wie ein Wesen von ganz andere Art, ein Geist vielleicht. Oder ein Gott.“

„Wie sie vermutet hatte, täuschte der Bart den Thom. Er war glatt drei Jahre jünger als sie, Doch was die Lebenserfahrung anging, verhielt es sich umgekehrt, er war bereits mit dem Fahrrad um Afrika herum gefahren, hatte in einem motorlosen Segelboot den Atlantik überquert und war unterwegs aufgrund einer Havarie auf seiner namenlosen kleinen Insel gestrandet. Er trainierte Bjiquam, eine alte chinesische Kampfkunst, hatte einen Ausdauerlauf durch die Sahara mitgemacht und vor ein paar Jahren als Proband einem Schlafexperiment teilgenommen …“

Und es geht weiter mit der Lobpreisung eines Mannes, der im Buch schon verstorben ist, also allein in der Erinnerung der Frau weiterlebt, die sich ständig an ihn erinnert. Puh. Damit hatte ich zu kämpfen und leider gibt es noch viel mehr Beispiel, die deutlich machen, dass der Autor in seinem Denken sehr stark in einer Kultur verwurzelt ist, die einen mir fremden Blick auf Frauen und deren Gleichberechtigung hat. 

Romanwelt – Setting und Dramaturgie

„Wandelnde Bäume, wundersame Schmetterlinge, Rehe, die sich in Ziegen verwandeln, und eine Katze, die ein unaussprechliches Geheimnis birgt: Wu Ming-Yi hat mit Der Mann mit den Facettenaugen eine faszinierende Romanwelt geschaffen, in der Klimakollaps, indigene Mythen, Identität und existenzielle Gefühle den Hintergrund für eine vielschichtige und raffinierte Erzählung bilden.“ (Zitat: Matthes & Seitz)

Auch wenn es immer wieder in Kritiken gesagt wird, oder vom Verlag behauptet und dann übernommen – die Erzählung ist nicht besonders raffiniert. Stimmen wechseln sich ab, Geschichten stehen nebeneinander und verknüpfen sich durch Ereignisse, die logisch gebaut und manchmal etwas arg hinkonsturiert sind. Personal taucht im Buch auf, wie es gebraucht wird, Situationen werden erleichtert oder erschwert, wenn es besser passt. So ist Alices Haus zwar von Wasser umschlossen wie eine Insel, aber ein paar Barhocker reichen, damit sie einkaufen kann. Eine Katze treibt heran, sie bringt sie zum Arzt und lässt sie impfen. Das kann man in einer phantastischen Erzählung und Erzählweise hinnehmen, raffiniert ist dann allerdings das falsche Wort.

Zusammenfassend

Wus Roman hat sicher eine große Bedeutung für den asiatischen Kulturkreis. Das globale Problem der Weltverschmutzung, die Unfähigkeit mit unserem Wohlstandsmüll so umzugehen, dass wir uns dabei nicht selbst vernichten (denn die Erde kommt bekanntlich gut ohne uns aus) ist ein wichtiges Thema des Romans. Dieses Thema mit den eigenen Wurzeln und dem Denken der indigenen Bevölkerung zu verbinden, ist ein interessanter Ansatz.

Wer das Buch liest, sollte ein grundsätzliches Interesse an Asien mitbringen. Hier für sich selbst weiter zu forschen und zu lesen, halte ich für sinnvoll. Literarisch erreicht das Buch für mich kein hohes Niveau, was möglicherweise der Übersetzung oder besser gesagt, einem fehlenden Lektorat nach Übersetzung geschuldet ist.

Ich möchte das Buch trotzdem empfehlen. Mit den richtigen Erwartungen und der Energie, sich auf eine etwas andere Erzählweise einzulassen und vor allem dem Interesse, sich darüber hinaus weiterzubilden, ist es ein wichtiger internationaler Beitrag in der Vielfalt der literarischen Veröffentlichungen.

Ach und noch etwas

Was ich bei meinen Recherchen gefunden habe und was mir – bei aller Umweltproblematik – gute Laune gemacht hat:

Die Müllabfuhr in Taiwan trennt die Abfälle während der Sammlung. Dabei fährt hinter einem weißen Müllwagen für den Trennmüll ein gelber Müllwagen, der den Restmüll annimmt. Die Mitarbeiter der Müllabfuhr leeren die Mülltonnen nicht eigenständig, sondern lassen sich den Müll von den Bewohnern anreichen. Sie prüfen den Müll erst streng, bevor sie ihn annehmen. Ausnahmen bilden sogenannte „Wohngemeinden“, in denen mehrere Hochhäuser stehen, bei denen der Torwächter sich um den Müll kümmert. Die gelben Müllwagen spielen während der Müllannahme Erkennungsmelodien: „Das Gebet einer Jungfrau“ von Tekla Bądarzewska oder Für Elise. Da die Müllabfuhr mehrmals täglich zu unterschiedlichen Zeiten fährt, wurden diese Melodien eingeführt. Das System wurde am 1. Januar 2006 etabliert und seitdem sind z. B. in Taipeh 380 Müllwagen unterwegs. Dieses neuartige Abfallsystem kostet im Jahr um die 500 Mio. NTD.[116]

Ming-Yi Wu: „Der Mann mit den Facettenaugen“ 

Übersetzer: Johannes Fiederling

Matthes & Seitz Berlin;

1. Edition, April 2022, 

Digitales Rezensionsexemplar über Netgalley.

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