Rezension

„Dschinns“ von Fatma Aydemir

19. November 2022
Rezension Birgit Birnbacher
„Dschinns“ von Fatma Aydemir

Klappentext: „Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach. Fatma Aydemirs Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet. Voller Wucht und Schönheit fragt „Dschinns“ nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus.“ (Quelle: Hanser Verlag)

Familien- und Gesellschaftsroman
Dschinns von Fatma Aydemir

Fatma Aydemir erzählt in ihrem ambitionierten Roman die Familiengeschichte von Hüseyin. Er ist als „Gastarbeiter“ nach Süddeutschland gekommen, hat dann über Jahre verteilt seine Frau und seine vier Kinder nachgeholt und dreißig Jahre lang zunächst in einer Metall- und später Pappkartonfabrik gearbeitet, geschuftet muss man wohl sagen. Da war er nicht der Einzige und so gesehen wird Hüseyin eine exemplarische Figur, er steht für eine ganze Generation von Einwanderern.

Endlich Rentner kann er sich eine eigene Wohnung in Istanbul kaufen, wenn auch nicht gerade in der besten Gegend. Doch bevor er seine Familie in der frisch renovierten Wohnung empfangen kann, ist er auch schon tot.Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn nun müssen die trauenden Angehörigen nach Istanbul reisen und zwar sofort, da es im Islam üblich ist, die Toten innerhalb eines Tages nach dem Tod zu bestatten.

Das ist der Ausgangspunkt für die gelungene Konstruktion des Romans.

Die Perspektiven

Jedes der sechs Kapitel ist einer Person der Familie gewidmet. Dabei ändert sie, was mir besonders gut gefallen hat, auch die Erzählperspektiven. Von der 2. Person Präsens, im ersten (Hüseyin) und letzten (Emine, seine Frau) Kapitel, wechselt sie zur 3. Person Präsens bei den Kindern, mit Einschüben im Imperfekt, wenn in Rückblicken erzählt wird. Wer da eigentlich im ersten und letzten Kapitel erzählt, wird, wie ich finde, sehr raffiniert erst am Ende des Buches enthüllt, oder zumindest nahegelegt.

Mit den sechs Figuren gelingt es Aydemir, das Leben einer Einwandererfamilie in Deutschland aus sechs unterschiedlichen Perspektiven ausführlich zu beschreiben. Alle vier Kinder stecken in unterschiedlichen Lebensphasen, haben unterschiedliche Ambitionen und Probleme. Dadurch verschafft sich Aydemir viel Raum gesellschaftliche Missstände und Debatten anzusprechen. Und sie hakt tatsächlich jedes Problem ab: Ausbeutung, Geschlechterrollen, Drogen, Depression, Homophobie, Suicid, Kleinkriminalität, Rassismus, Analphabetismus, Klassismus, Machismus, ethnische Unterdrückung und, und, und …

Das Exemplarische vs. das Individuelle

Ja, manchmal war mir das etwas zu gewollt. Die Figuren müssen für viel exemplarischen Infodrop herhalten. Dennoch werden sie mit so viel Wärme erzählt, dass sie für mich nie zu klischeehaft werden. Selbst der kleinkriminelle Sohn, der in seinem frisierten Alpha in dreiundreißig Stunden mit einigen Litern Red Bull im Blut und Schmiergeld im Gürtel aus Deutschland zur Beerdigung nach Istanbul rast, erhält so viele Facetten, dass er zu einer dreidimensionalen, sympathischen Figur wird.

Warum sich das Buch auf  jeden Fall lohnt

Ein Highlight des Buches ist für mich das letzte Kapitel, in dem nicht nur ein lang gehütetes Familiengeheimnis gelüftet wird, sondern ein klärendes Streitgespräch zwischen Mutter und Tochter beschrieben wird, das in seiner Wucht Seltenheitswert hat. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon einmal gelesen zu haben. Es bringt im wahrsten Sinne die Lebenslügen einer Generation zum Einstürzen.

Und die Dschinns?

Ist da etwa einer der titelgebenden Dschinns involviert, der Hüseyin im Moment seines Todes versprach, über seine Familie zu wachen? Ist es die geheimnisvolle Figur, die sich als Familiengeheimnis durch die ganze Geschichte zieht, die alle Fäden zieht, die die Geschichte erzählt, die Vater und Mutter direkt mit »Du« anspricht, und ihre Welt zum Einsturz bringt? Denn was in Hüseyins Sterbestunde zunächst wie ein langer innerer Monolog daherkommt, entpuppt sich als Ansprache eines Schattenwesens. »Du musst dich nicht fürchten, Hüseyin, dieser Schatten, das bin nur ich«, heißt es da. »Ich verspreche dir, ich werde hier blieben, in diesem Haus, in deiner Wohnung, und werde über deine Familie wachen, wenn sie hier eintrifft, ich gebe dir mein Wort, Hüseyin, ich verspreche es dir, für dich aber ist es nun Zeit zu gehen, daran kann nicht einmal ich etwas ändern.« Mit Hüseyins Tod, so könnte man meinen, bringen die Dschinns eine überkommene Ära zu ihrem Ende.

PS:

Rheinstadt heißt der süddeutsche Ort, in dem Hüseyin sein erwachsenes Leben verbracht hat. Ich konnte ihn auf keiner Karte finden. Er ist offensichtlich fiktiv. Interessanterweise gab es aber Mitte der sechziger Jahre, als die »Gastarbeiter:innen« einen Großteil des Bevölkerungswachstums ausmachten, in Karlsruhe Planungen für eine Trabantenstadt. In der »Rheinstadt« sollten drei kreisrunde Wohngebiete mit zehn- bis vierzehnstöckigen Hochhäusern für 9000 Menschen entstehen. Die Planungen wurden Anfang der siebziger Jahre aufgegeben. Hatten die Dschinns ihre Finger im Spiel?

 

Danke, für das Leseexemplar, das uns über NetGalley zur Verfügung gestellt wurde.

Roman von Fatma Aydemir
Carl Hanser Verlag, München 2022

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